Beschädigtes Kurzzeitgedächtnis

Kontext-Rekonstruktion in Zeitlupe: Bizarre Amnesie im US-Kassenhit „Memento“  ■ Von Holger Römers

Allzu oft stehen der Aufklärung von Straftaten die Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses im Wege. Da ist es nur folgerichtig, dass die Filmgenres, die um Verbrechen kreisen, immer wieder die Grenzbereiche menschlicher Erinnerung zum Thema machen. Um das plötzliche Aufblitzen verdrängter traumatischer Erlebnisse eindrucksvoll zu illustrieren, werden in Krimis, Thrillern und Films Noirs also mit schöner Regelmäßigkeit einzelne Szenen durch Flash-Cuts unterbrochen. Oder aber Figuren leiden unter einer Krankheit, von deren Exis-tenz man außerhalb von Medizinerkreisen wohl kaum wüsste, wenn es das Kino nicht gäbe: denn wo außer in Genrefilmen fällt schon einmal der Begriff „Amnesie“?

Seine eigenen, noch etwas exotischeren Gedächtnisschwierigkeiten erklärt der Protagonist des Streifens Memento seinen Mitmenschen denn auch im Kontrast zur populären Störung des Langzeitgedächtnisses: Nein, er leidet nicht unter Amnesie, Leonard (Guy Pearce) kann sich sehr wohl daran erinnern, was bis zu jenem Tag vor drei Jahren geschah, als seine Frau vergewaltigt und, wie es scheint, ermordet wurde. Als er von dem Täter niedergeschlagen wurde, erlitt er jedoch eine Gehirnverletzung, die sein Kurzzeitgedächtnis irreparabel geschädigt hat. Seither ist sein Erinnerungsvermögen auf wenige Minuten beschränkt, am Ende eines Gespräches weiß er mitunter also nicht mehr, wer sein Gegenüber ist. Ob solch ein Krankheitsbild tatsächlich existiert, sei dahin gestellt. In den Händen des Briten Christopher Nolan, der für seine zweite Spielfilmregie auch das Drehbuch verfasst hat, erweist sich Leonards Gedächtnisschwäche jedenfalls als außerordentlich effektiver Aufhänger für einen Film Noir-Stoff. Sie liefert nämlich die inhaltliche Begründung für eine virtuose, verschachtelte Erzählstruktur, in der einzelne disparate Handlungsvignetten und Rückblenden aus Leonards früherem Berufsleben erst allmählich einen nachvollziehbaren Zusammenhang ergeben.

Leonard lebt einerseits in der kontextlosen Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt, das von einem Augenblick auf den nächsten bereits in Vergessenheit geraten ist. Andererseits gibt allein die drei Jahre zurückliegende Vergangenheit und die daraus resultierende Absicht, den unbekannten Angreifer umzubringen, dem Leben des ehemaligen Versicherungsdetektivs einen Sinn.

Insofern ist das beliebte Jonglieren mit unterschiedlichen Zeitebenen in Memento ausnahmsweise einmal kein Selbstzweck. Umso sympathischer macht den fünf Millionen Dollar billigen Independent Film, der sich in den USA mittlerweile zu einem kleinen Kassenhit gemausert hat, dass Nolan seine demonstrative erzählerische Brillanz durch ein angenehmes Understatement in der Inszenierung ausgleicht. Die Beiläufigkeit, mit der zahlreiche absurde Details eingeflochten werden, ist vielleicht überhaupt das Schönste an diesem straighten Film Noir, der sich der Gesetzmäßigkeiten seines Genres ohne jede ausgestellte Selbstreflexivität oder Ironie bedient – als hätte die Postmoderne im Kino nie stattgefunden.

So kann es Leonard tatsächlich passieren, dass er während einer bewaffneten Verfolgungsjagd plötzlich vergessen hat, ob er nun Jäger oder Gejagter ist. Um sich zu vergegenwärtigen, welches sein Auto ist und wo er wohnt, muss er außerdem ständig Fotos seines Wagens und seines Motels bei sich tragen. Mit seiner Polaroid schießt er auch von jeder neuen Bekanntschaft ein Foto, damit er die Person bei einem etwaigen Wiedersehen identifizieren kann. Und selbst eine Tötungsabsicht bedarf der Gedächtnisstütze, also kritzelt Leonard unter das Bild des Betroffenen wie selbstverständlich ein entsprechendes Memento.

heute, 23 Uhr, Cinemaxx