: Das Spinnrädchen
Nicht die Revolution, sondern ein Korrektiv: In Jean-Pierre Jeunets Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ widmet sich die wunderlich-hilfsbereite Titelheldin den randständigen Bewohnern von Paris
von ANKE LEWEKE
Ein blechernes Miniaturfahrrad, hölzerne Spielfiguren, kunterbunte Murmeln – über Jahrzehnte beherbergte eine abgegriffene Zigarilloschachtel diese Zeichen unbeschwerter Tage. Per Zufall hat Amélie sie hinter einer Kachel in ihrem Badezimmer entdeckt. Jetzt versucht sie den Namen auf dem beigefügten vergilbten Zettel zu entziffern, um die Erinnerungen an eine Kindheit dem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.
Auch Jean-Pierre Jeunets neuer Film hat etwas von einer zur Schatztruhe umfunktionierten Kiste. Öffnet man sie, wird man in eine Welt hineingezogen, die aussieht wie unsere und doch anders ist. In „Delikatessen“ oder „Stadt der verlorenen Kinder“ hat der französische Regisseur noch künstliche Universen entworfen, apokalyptische Landschaften bevölkert von Kannibalen oder bösartigen Traumdieben. Mit Amélie, der titelgebenden Protagonistin, spaziert man jetzt durchs heutige Paris. Amélie Poulain (auf Deutsch: Fohlen) ist trotz ihrer schweren Boots nun alles andere als ein modernes Girlie, sondern ein schüchternes Wesen, dessen zurückhaltende, hilfsbereite Art etwas sympathisch Antiquiertes hat.
Mit einer märchenhaften Erzählerstimme taucht Jeunets Film ein in ihre schräg-skurrile Welt. Der transformatorische Blick des Mädchens verwandelt die ganz alltägliche Umgebung in ein wundersames Reich: Vorbeiziehende Wolken formieren sich zu Tieren, TV-Nachrichten bekommen einen magischen Touch, wenn ein weißer Schimmel plötzlich die Tour de France links liegen lässt. Amélie Poulain ist ein kleines Spinnrädchen, das eifrig die Träume weiterspinnt: Wenn der Vater das Fernweh schon nicht auslebt, schickt die Tochter wenigstens seinen geliebten Gartenzwerg auf Reisen. Verwundert bekommt der Alte jetzt Postkarten aus aller Welt, die den roten Zipfelmützenwicht auf dem Empire State Building oder vor dem Taj Mahal zeigen. Nur Amélie weiß, warum die alte Concierge nach jahrzehntelangem Warten einen Brief von ihrem verstorbenen Verlobten bekommt.
Überzogen formuliert ist Amélie so etwas wie eine Heilige des modernen Lebens. In ihren Träumen stilisiert sie sich selbst zur Nachfolgerin von Mutter Teresa, doch die Front, an der sie steht, ist keine der materiellen Entbehrungen, sondern das Unbehagen an der Moderne. Der alte Maler mit den Glasknochen, der einarmige Obsthändler oder der erfolglose Schriftsteller – es sind die einsamen Existenzen, die autistischen Wunderlinge und merkwürdigen Randfiguren, derer sich die Fee mit dem frechen Pagenkopf annimmt, indem sie unsichtbare Kommunikationsstränge knüpft oder produktive Sabotage ausübt.
Vielleicht mag man das verschmitzte Mädchen deshalb so gern, weil es keine Botschaften verkündet oder am Leid der Welt verzweifelt. Amélie ist nicht die Revolution, sondern das Korrektiv. Ihre Mittel sind vorsichtige Eingriffe, kleine Streiche, durch die ein erstarrtes Leben wieder in Bewegung geraten kann. Etwa wenn die Gläser des Bistros, in dem Amélie arbeitet, zu klirren beginnen. Da ist tatsächlich etwas in Gang gekommen, denn das aufmerksame Wesen hat den nörgeligen Dauergast und die hypochondrische Zigarettenverkäuferin verkuppelt.
Das Bistro auf dem Montmartre, ein paar Takte Piaf, eine mit allen Wassern gewaschene Wirtin und schon ist der Mikrokosmos des vieux Paris wieder präsent. Das mag nach Postkartenkitsch klingen, dennoch ist Jeunets Film weit davon entfernt, in nostalgische Eskapismen abzudriften. Vielleicht haben wir es hier einfach mit einem neuzeitlichen George Meliès zu tun. Auch der Begründer des fantastischen Kinos griff tief in die filmische Trickkiste, um von Träumen und Wünschen zu erzählen. Gleich einer seiner ersten Filme zeigt eine Fahrt zum Mond. Ein Personenzug voll seriöser Damen und Herren in Kleid, Frack und Zylinder machte sich damals auf den Weg. So traf der Zuschauer in der abenteuerlichen Ferne letztlich nur sich selbst und seine Welt wieder.
Auch das Fantasiereich von Jeunets Titelfigur hebt nie völlig ins naive Märchenhafte ab, die buchstäblich verdichtete Form gönnt dem Zuschauer lediglich eine Auszeit. Spätestens, wenn es um die Ästhetik von Herrensandalen geht, um verwelkte Haut nach einem heißen Bad oder den Inhalt von Damenhandtaschen, ist man wieder auf dem Boden der Wirklichkeit gelandet.
„Die fabelhafte Welt der Amélie“. Regie: Jean-Pierre Jeunet. Mit Audrey Tautou, Mathieu Kassowitz u. a. Frankreich 2001, 120 Min.
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