: „Ich mag halt den Retro-Touch“
Jean-Pierre Jeunets liebevolles Filmmärchen „Die fabelhafte Welt der Amélie“ verbindet seine hypermodernen Effekte mit einem nostalgischen Gestus. Der Regisseur im Gespräch über sein künstliches Paris, den Amélie-Kult und Männersandalen
Interview KATJA NICODEMUS
taz: Herr Jeunet, das Digitale hat dem Kino wieder eine Art Stunde null beschert. Genauso wie sich am Anfang der Filmkunst der dokumentarische Weg von Lumière und der fiktional-fantastische Stil von Meliès entwickelten, haben sich auch aus der digitalen Technik zwei parallele Richtungen entwickelt: Einerseits der Dogma-Stil mit seiner eher dokumentarischen Ästhetik und andererseits fantastische Arbeiten wie das Sciencefiction-Melodram „Final Fantasy“ oder auch Ihr Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Sehen Sie sich als ein moderner Meliès?
Jean-Pierre Jeunet: Ja und nein. Meliès verkörpert für mich ein rein fantastisches Kino. In diese Richtung bin ich gemeinsam mit Marc Caro gegangen, als wir den Film „Die Stadt der verlorenen Kinder“ drehten. In „Die fabelhafte Welt der Amélie“ sind die Effekte aber in eine Erzählung integriert. Das heißt, es gibt in diesem Film jede Menge digitale Effekte, die man gar nicht wahrnimmt. Man kann das Digitale eben auch auf diskrete Weise einsetzen, um beispielsweise einen während der Dreharbeiten verhangenen Himmel blau einzufärben.
Es gibt aber auch jede Menge Effekte, die man sehr deutlich wahrnimmt. Zum Beispiel wenn ihre Heldin wie ein Wasserstrahl in sich zusammenfällt ...
... ich nenne sie Tex-Avery-Effekte, weil sie etwas Comic-haftes haben. Meistens setzen sie etwas Sprichwörtliches ins Bild.
Mit diesen Effekten bringen Sie den Zuschauer zum Staunen, das hat etwas vom guten, alten Budenzauber.
Und damit wären wir auch wieder bei Meliès (lacht). Natürlich befinde ich mich damit im krassen Gegensatz zu einem ganz bestimmten realistischen Kino, das in Frankreich jahrelang die Nase vorne hatte. Es handelt sich um ein realistisches Kino, das den Alltag abbildet, mit Schauspielern, die wie bei sich zu Hause sprechen. Schlecht geschrieben, schlecht gefilmt, blöd wie das Leben. Aber das französische Kino ist gerade dabei, sich zu verändern und zu erneuern. Jetzt gibt es endlich wieder Filme, die den Zuschauern gefallen, statt sie zu nerven. Genau das ruft den Zorn gewisser Kritiker und Intellektueller hervor, die sich für ein langweiliges Kino in die Bresche schlagen. Aber es weht schon eine frische Brise, wenn in Frankreich sieben Millionen Menschen einen Film wie „Amélie“ sehen.
Warum ereifern Sie sich so über ein wirklichkeitsnahes Kino? Es ist doch eher so, dass beide Richtungen ihre Berechtigung haben ...
Sie haben Recht, es muss alle Formen des Kinos geben. Meiner Ansicht nach ist es sogar gleich wichtig, bestimmte Filme zu hassen, wie andere Filme zu mögen. Je mehr Sie die einen hassen, desto mehr werden Sie die anderen lieben. Aber ich finde, dass das realistische Kino in Frankreich zu lange die Oberhand hatte.
Der Kinostil, den Sie vertreten, ist aber auch nicht ganz unumstritten. „Die fabelhafte Welt der Amélie“ beschwört ein nostalgisches Paris-Gefühl, mit alten Cafés, einer kauzigen Concierge und alten Schlagern. Das brachte Ihnen beispielsweise von Libération den Vorwurf ein, reaktionäres Kino mit Le-Pen-Touch zu fabrizieren.
Die Nostalgie hat einen ganz bestimmten Grund. Ich habe nämlich 20 Monate in Los Angeles verbracht, um dort „Alien 4“ zu drehen. Wenn Sie die Stadt kennen, dann wissen Sie, dass es dort schön ist, weil der Himmel immer blau ist. Aber es ist eigentlich keine Stadt, sondern ein Ort, an dem man nie zu Fuß läuft, ein Ort, an dem es keine Kultur gibt und dessen Einwohner sich sehr merkwürdig verhalten. Als ich dort war, habe ich mich nach dem Paris gesehnt, dem ich als Jugendlicher begegnet bin. In meinem Kopf habe ich die Stadt völlig idealisiert. Und im Film ist dieses Paris ein völlig künstliches, dahingetrickstes, verwandeltes geworden. Wir haben die Plakate geändert und die Autos entfernt, die Hauswände gestrichen und ein Postkartenparis geschaffen, in dem Jacques Tati jeden Augenblick um die Ecke biegen könnte. Diese „Falschheit“ war von Anfang an gewollt. Dass man mich nun als Faschisten bezeichnet, weil es in dieser künstlichen Stadt keine Pakistaner, keine Homosexuellen und keine Araber gibt, finde ich absurd.
Ihr Film hat durchaus randständiges Personal. Autisten, Arbeitslose, ein verschrobener Typ, der im Sexshop arbeitet ...
Die Sexshops gehören einfach zum Montmartre, genauso wie Pigalle und der ganze Kram. Natürlich ist „Amélie“ kein militanter oder sozial engagierter Film. Er hat eine optimistische Weltsicht, die im Übrigen nicht meiner eigenen entspricht. Ich finde, dass Frankreich nicht unbedingt ein schönes und sympathisches Land mit tollen Einwohnern ist. Aber man kann auch nicht immer mit Verbitterung und Zynismus leben. Als die Franzosen die Fußballweltmeisterschaft gewonnen haben, war vorübergehend alles gut und alle waren stolz, Franzosen zu sein. Für ein paar Tage finde ich das auch ganz in Ordnung.
In Frankreich scheint es inzwischen einen echten Amélie-Kult zu geben. Mit Amélie-Clubs, Schlüsselanhängern, Amélie-Puppen, Amélie-Kerzen und anderen Devotionalien.
Dass dieser Film inzwischen fast sieben Millionen Zuschauer hat, ist eine Erscheinung, die meinen Horizont völlig übersteigt. Er ist zu einem sozialen Phänomen geworden, und jede Menge Essays und Analysen versuchten zu ergründen, warum die Franzosen nun ausgerechnet diesen Film bis zum Wahnsinn lieben, der Staatspräsident eingeschlossen. Ich habe mir zurechtgereimt, dass die Leute ein ungeheures Bedürfnis haben, nach etwas Positivem, Optimistischem zu suchen, auch in sich selbst. Dabei hatte ich Angst, dass man mich als verspießerten Nostalgie-Dussel abstempelt.
Im Grunde haben Sie in allen Ihren bisherigen Filmen versucht, mit hypermodernen Mitteln eine Verbindung zur Vergangenheit zu schaffen. Selbst in „Alien 4“ gibt es Kupferkessel und Maschinen aus dem 19. Jahrhundert.
Ich empfinde eine ganz besondere Zärtlichkeit für altmodische Objekte, auch für das Zeitkolorit der 30er- und 40er-Jahre, ich mag den Retro-Touch. Ich gehe auch gerne auf Flohmärkte, und bei mir zu Hause gibt es viele alte Gegenstände, auch viel Holz. Das ist eine ganz persönliche Vorliebe, die in den Filmen immer wieder auftaucht. Ich ästhetisiere nun mal gerne. Wobei ich das Gefühl habe, dass schöne Dinge viel eher schockieren als hässliche. Vor ein paar Jahren zum Beispiel gab es in Frankreich eine riesige Debatte über die Glaspyramide vor dem Louvre. Hingegen hat es niemals eine Debatte über die unsagbar hässlichen automatischen Toiletten gegeben, die ganz Frankreich überschwemmen.
Das sind Sätze, die auch die Off-Stimme Ihres Films sagen könnte.
In diesem Film hatte ich ein für mich einmaliges Verfahren angewendet. Seit Jahren schon sammle und notiere ich Anekdoten, Geschichten und Erinnerungen, die alle gemeinsam haben, dass sie, wenn man sie erzählt, ein Lächeln auslösen. Der Typ, der die misslungenen Automatenbilder sammelt, der reisende Gartenzwerg und die ganzen komischen Was-ich-mag-und-was-ich-nicht-mag-Geschichten – davon hatte ich hunderte. Und ich wollte wenigstens einmal einen Film drehen, in dem sie vorkommen.
Haben Sie selbst auch einen persönlichen Was-ich-mag-und-was-ich-nicht-mag-Katalog?
Alle kategorischen Geschmacksurteile im Film sind meine eigenen.
Aber im Film gibt es ein sehr eindeutiges Urteil gegen Männersandalen ...
(schaut auf seine Sandalen) Nein, das muss ich erklären! Es gibt zwei Sorten von Sandalen. Die, bei denen man die Zehen sieht, und solche, die die Zehen verbergen. Bei diesen Sandalen hier sieht man meine Zehen definitiv nicht. Aber anscheinend erregen diese Schuhe einfach Aufmerksamkeit. Als wir beim Staatspräsidenten eingeladen waren, fragte mich Chirac nämlich, warum meine Heldin so hässliche Schuhe trägt. Dann fiel sein Blick auf meine Sandalen, und er sagte: „Unglaublich, aber Ihre sind tatsächlich noch hässlicher.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen