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: WLADIMIR KAMINER über die Kunst des Bettlers

Ein Neuanfang für alle

Vor noch nicht allzu langer Zeit fand in Moskau ein Bettler-Wettbewerb statt, organisiert von einer hauptstädtischen Kunstzeitschrift. Die Kunstwissenschaftler wollten damit rausfinden, wie zynisch bzw. romantisch die Moskauer sind. Ob man sie noch zum Weinen bringen kann, zur Rührung, und wem sie bereit sind zu helfen bzw. wem nicht.

Auch viele Journalisten, als Penner verkleidet, nahmen am Wettbewerb teil. Mit ausgedachten Geschichten liefen sie durch die Züge der Moskauer Metro, saßen in den unterirdischen Gängen oder einfach auf der Straße. Der eine beklagte sich laut, seine Frau hätte ihn losgeschickt, um eine Waschmaschine zu kaufen, er habe aber das ganze Geld mit Freunden versoffen. Seine Frau würde ihn nun umbringen, wenn er ohne Waschmaschine und ohne Geld nach Hause käme. Die Moskauer gaben ihm nur wenig Unterstützung.

Ein anderer Mann erzählte, sein einziger Sohn habe eine seltene Krankheit – um sie zu bekämpfen, müsse er jeden Tag in frischem Bier gebadet werden, was aber für die Familie finanziell untragbar wäre. Zwei Männer gaben ihm Geld. Nebenbei erkundigten sie sich, was der Vater mit dem Bier mache, nachdem der Sohn darin gebadet habe, und ob diese seltene Krankheit ansteckend sei. Ein älterer Mann mit Brille und Hut, der den ganzen Tag durch die Stadt lief mit einem Schild „Spendet für eine neue gerechtere Revolution“ – bekam so gut wie gar nichts.

Es gewann bei dem Wettbewerb der Mutigste. Bei minus fünf Grad saß er halb nackt vor der großen Kirche der heiligen Gottesmutter. Sein Körper war mit zahlreichen Tätowierungen bedeckt. Um seinen Hals hing ein Schild: „Ich war ein Profikiller und will ein neues Leben anfangen. Kein Blut mehr vergießen. Brauche finanzielle Unterstützung.“ Viele Passanten blieben vor dem Mann stehen. Sie fragten ihn, wie lange er als Profikiller gearbeitet habe, was er im Jahr verdient hätte und wie es passieren konnte, das er bei solchen Verdienstspannen nichts beiseite gelegt hatte. Er hätte einen gehobenen Lebensstil gehabt und wollte dann dummerweise nicht darauf verzichten, antwortete der Exkiller verlegen.

Eine Frau fragte ihn, wie lange er noch hier sitzen wolle. Sie habe kein Geld mit, würde ihm aber später ein bisschen was von zu Hause mitbringen können. „Ich habe kein Geld für sie, höchstens einen Job“, sagte ein intelligent aussehender Mann mit Aktentasche in der Hand. Der Exkiller winkte ab: „Ich will keine Menschen mehr umbringen.“ Der Mann mit der Aktentasche verschwand in der Menge. „Geht der Direktor der Marathon-Bank zufällig auch auf Ihr Konto?“, fragte ihn eine alte Dame. Sie hatte ihre Geldbörse bereits in der Hand und wollte einen Geldschein herausziehen. „Nein, den hat ein Kollege von mir auf dem Gewissen“, entschuldigte sich der Exkiller. „Schade“, sagte die alte Dame und steckte ihren Geldschein wieder ein. Doch alles in allem bekam der Exkiller am meisten Aufmerksamkeit und Spenden. Es scheint, dass die Moskauer sich mit dem ewigen Bettler-Traum „Einen Neuanfang wagen“ am ehesten identifizieren konnten.

Gleiches gilt für die Berliner. Sollte hier jemals ein solcher Wettbewerb stattfinden, so würden ihn zweifellos die Motz-Verkäufer gewinnen. Unter ihnen verbergen sich einige wahre Talente. Besonderes große Klasse ist Dr. Johnson, der täglich die U2 bewirtschaftet. Seine Ansprachen an das Volk fangen pathetisch an: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bürger“, sagt der Doktor jedesmal, wenn er einen Wagen betritt. „Sie sehen mich nun alle und denken, schon wieder so ein Penner, der unser Geld will. Und in gewisser Weise haben sie damit Recht, meine Damen und Herren. Aber manchmal ist das Leben ein komisches Spiel. Und aus diesem Grund möchte ich Ihnen die Obdachlosenzeitung Motz anbieten. Diese Zeitung kostet nur 2 Mark, eine Mark geht an die Obdachloseneinrichtungen der Stadt, und die andere Mark geht persönlich an mich. Diese Mark, meine Damen und Herren, werde ich nicht für irgendwelche Drogen oder für Alkohol ausgeben. Sondern ...“

An dieser Stelle rollt Dr. Johnson jedesmal mit den Augen und überlegt sich genüsslich, was er so alles mit einer Mark anstellen würde. „Vielleicht kaufe ich mir ein Waschmittel, um meine Klamotten zu waschen, oder besser noch ein Schampoo. Vielleicht gehe ich sogar in die Sauna, um mich zu waschen, ich stinke ja schon, das können sie doch riechen – meine Damen und Herren ...“ Die so angesprochenen Damen und Herren bewilligen dem Doktor den Kauf eines Schampoos. Gegen Abend läuft er schon ohne Zeitung durch den Zug und wirkt ein wenig aggressiv. Wahrscheinlich hat er doch das Falsche gekauft.

„Normalerweise verkaufe ich hier die Obdachlosenzeitung Motz“, schreit er die Fahrgäste an. „Aber heute mach ich eine Ausnahme und bitte Sie um eine Spende. Ich werde mir für dieses Geld keine Scheißdrogen und keinen Scheißalkohol kaufen. Vielleicht gehe ich einfach in ein Café. Vielleicht kaufe ich mir dort eine Zigarre und Likör, um mich ein bisschen zu entspannen. Vielleicht kaufe ich mir sogar eine Zeitung! Nicht irgendsoeine Scheißobdachlosenzeitung, sondern eine richtige – die Frankfurter Allgemeine z. B. oder einfach nur Allgemeine ...“

Die Fahrgäste stellen sich vor, wie der Doktor ins Café geht, dort eine Allgemeine und einen Likör bestellt und sich entspannt. Seine Sehnsucht nach Normalität ist ihnen nicht fremd. Viele spenden sogar großzügig.