: Spätes Interesse für Lynchmord an Piloten
Vor 57 Jahren wurden gefangene US-Bomberpiloten von Rüsselsheimer Bürgerinnen und Bürgern mit Hämmern und Latten totgeschlagen. Das Massaker war lange ein Tabuthema. Jetzt kommt ein Überlebender zurück in die Opelstadt
RÜSSELSHEIM taz ■ Jede Stadtregierung seit Kriegsende wäre eigentlich in der Pflicht gewesen, sich diesem „unfassbaren und fürchterlichen Ereignis“ zu stellen und es aufzuarbeiten, sagte Dagmar Eichhorn von der privaten Initiative zur Erinnerung an den 26. August 1944 gestern auf einer Pressekonferenz in Rüsselsheim. Doch noch bis zum Sommer 2000 habe sich das politische Rüsselsheim gescheut, die brutale Ermordung von sechs jungen US-amerikanischen Fliegern im vorletzten Kriegsjahr durch Bürgerinnen und Bürger der Stadt zu thematisieren: „aus Rücksicht auf Familien der Täter“.
Mehr als zehn Jahre lang sei ein Manuskript mit dem Titel „Wolfsangel: Totentanz in Rüsselsheim“ in den Archiven der Stadt verstaubt, berichtete Eichhorn. Darin beschäftigt sich der US-Historiker August Nigro ausführlich mit dem Massaker in den Straßen der Opelstadt. Auch auch die Protokolle des ersten Kriegsverbrecherprozesses 1945, in dem zehn Rüsselsheimer verurteilt wurden, lagen seit mehr als 50 Jahren vor und wären jederzeit einsehbar gewesen.
Es war die private Initiative von Eichhorn und anderen, die im vergangenen Jahr die linke Stadtregierung mit diesem „dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Kommune“ (Eichhorn) konfrontierte. Zusammen mit der Initiative organisierte Kulturdezernent Werner Rebenich (Liste Rüssel) dann eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel: „Erinnerungen an die Schatten der Vergangenheit – ein Rüsselsheimer Dialog zur Versöhnung.“
57 Jahre nach den Morden kommt jetzt Sidney Brown in die Stadt. Er und ein zweiter Flieger, William Adams, hatten überlebt, weil sie sich tot stellten – und weil ein Fliegeralarm einen Rüsselsheimer daran hinderte, den schon auf einem Karren aufgeschichteten tatsächlichen und vermeintlichen Leichen mit einem Stück Holz die Schädel einzuschlagen. „Sidney Browns Bereitschaft, sich der tragischen Ereignisse am Ort des Geschehens zu erinnern, ist eine herausragende und großherzige Geste des Verstehens, des Verzeihens und der Versöhnung“, sagte Oberbürgermeister Stefan Gieltowski (SPD). Am Sonntag wird es in Rüsselsheim einen Gottesdienst und einen offiziellen Empfang für Brown und den Bruder eines der ermordeten Flieger im Rathaus geben.
Zu Tode geprügelt wurden die Flieger Elmore Austin, William Dumont, Norman Rogers, John Sekul, Thomas Williams und Haigus Tufenkjan. Sie alle waren am 24. August 1944 mit Fallschirmen aus ihrem von einem Flakgeschütz getroffenen brennenden B-24 Bomber über Osnabrück abgesprungen. Die deutsche Luftwaffe nahm die Flieger gefangen. Zwei Tage später sollten sie mit der Bahn in ein Lager nach Oberursel bei Frankfurt gebracht werden. Doch zwischen Bischofsheim und Rüsselsheim war die Fahrt zu Ende. Nach einer Bombardierung Rüsselsheims durch die britische Royal Air Force waren die Gleise schwer beschädigt. Bei diesem Angriff starben 177 Zwangsarbeiter, die den Bomben schutzlos ausgeliefert waren; sie durften nicht in die Bunker. Auch 22 Bürger von Rüsselsheim kamen ums Leben.
Die gefangenen US-Soldaten wurden dann durch das verwüstete Rüsselsheim geführt. Am Marktplatz versammelte sich eine Menschenmenge. Eine Frau schrie: „Das sind die Terrorflieger! Schlagt sie zu Tode!“ Eine Meute außer Rand und Band geratener Bürger hetzte danach die Flieger durch die Straßen. Immer wieder sei mit Fäusten und mit Knüppeln auf sie eingeschlagen worden, so Augenzeugen. Steine flogen. Ein Mann schlug einem Flieger mit einem Hammer den Schädel ein. „Frauen warfen ihre Milchkannen auf die Flieger“, schrieb Nigro in seinem Buch. Mehr als hundert Bürgerinnen und Bürger der Stadt beteiligten sich an der Jagd auf die Flieger. Und die Wachsoldaten griffen nicht ein.
Jetzt also die Aufarbeitung – „spät, aber nicht zu spät“, wie Kulturdezernent Rebenich sagte. Der Mann hat noch ein anderes Problem. Auf einer Gedenktafel für die Zwangsarbeiter bei Opel ist verharmlosend von „Fremdarbeitern“ die Rede. Trotz massiver Proteste will Rebenich, der gestern Wert auf „historische Genauigkeit“ bei der Beschäftigung mit den Morden legte, das nicht ändern: wegen zu hoher Kosten.
KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT
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