: Donnerndes Derby der Rasseschmerzen
Wird „Herpes im Mundwinkel, der beim Lachen immer wieder aufreißt“ das Rennen auf der Zielgeraden gewinnen?
Mein Fahrrad fegt den Hügel hinunter, überschlägt sich und dreht sich ein paar Mal um sich selbst, bevor es im Schotterdreck anmutig ausschlittert. Ich erhasche aus den Augenwinkeln, wie mein rechtes Knie in den Asphalt stößt und eine dreißig Zentimeter lange, blutige Furche zurücklässt. Gleichzeitig höre ich meine Jeans reißen und spüre, wie sich Schotterstückchen in mein Fleisch rammen. Als sich der Staub wieder legt, schließe ich die Augen und beiße meine Zähne zusammen, um dem großen, starken Schmerz entgegenzutreten. Es gibt solche Arten von Schmerzen und solche. Da gibt es beispielsweise diesen bollernden Kopfschmerz, der einem das Hirn zu sprengen droht, weswegen man sich nicht darauf konzentrieren kann, was man wohl am Abend zuvor unternommen hat. Ganz schlimm sind auch die peinigenden Schmerzen unbefriedigter Neugier. Und es gibt natürlich Liebeskummer und Zahnschmerz, die beiden groben Gesellen. Und man darf auch die Schmerzen einer Nierenkolik nicht vergessen. Und nicht zuletzt gibt es die Schmerzen im Mundwinkel, wenn man Herpes hat, der beim Lachen immer wieder aufreißt.
Wollte man alle diese Rasseschmerzen in einem Galopprennen gegeneinander antreten lassen, wäre es spannend, welche drei Kandidaten einen Platz auf dem begehrten Siegertreppchen ergatterten. Ich würde zum Führring gehen, wo die aufgepeitschten Schmerzen vor dem Start an langen Zügeln in der Runde umhertänzeln. An Bollernder Kopfschmerz verschwende ich keinen Blick. Ein plumper Hannoveraner, der schnarchend von seinem Jockey durch den Sand geschleift wird. Der Rest des Feldes sieht passabel aus. Besonders die drei englischen Vollblüter Liebeskummer, Zahnschmerz und Unbefriedigte Neugier wirken gut gepflegt und durchtrainiert. Die jetzt wilder werdenden Schmerzen hat man bereits in die Startboxen geprügelt. Empört muss ich zusehen, wie Bollernder Kopfschmerz vor der Ehrentribüne erschossen wird, weil er für das Renngeschäft nicht mehr zu gebrauchen ist. Tja, das Business ist hart. Für ihn wird Aufgerissenes Knie ins Rennen geschickt. Ein durchtriebener kleiner Schmerz von undurchsichtiger Abstammung. Wirkt eher unscheinbar, ist aber ein gewaltiger Sprinter.
Und die Startboxen fliegen auf! Das Feld prescht los und stürmt die erste Gerade entlang. Liebeskummer liegt an der Spitze, aber Nierenkolik und Unbefriedigte Neugier folgen ihm dicht auf den Hufen. Zahnschmerz rennt tapfer mit, kann aber, so wie es aussieht, nicht recht Schritt halten. Erregt verfolge ich das Geschehen. Das Feld geht in die erste Kurve und löst sich langsam auf. Herpes im Mundwinkel, der beim Lachen immer wieder aufreißt holt unerwartet auf und setzt sich an die Seite von Unbefriedigte Neugier. Ein spannendes Rennen! Kopf an Kopf rasen gerade Liebeskummer und Herpes im Mundwinkel, der beim Lachen immer wieder aufreißt in die zweite Kurve. Zahnschmerz trollt sich und beginnt zu grasen. Auch er wird erschossen. Ich bin entsetzt, verfolge aber weiterhin erregt das Geschehen. Das Feld biegt in die Zielgerade ein. Unbefriedigte Neugier und Liebeskummer liegen jetzt Nüstern an Nüstern. Herpes im Mundwinkel der beim Lachen immer wieder aufreißt folgt ihnen nur um Bruchteile von Zentimetern. Aber was ist das? Aufgerissenes Knie sprintet wie ein Berserker voran und findet gar kein Halten mehr . . .
Zu meinem Entsetzen muss ich mitansehen, wie Herpes im Mundwinkel, der beim Lachen immer wieder aufreißt schlappmacht und tot umfällt. Aufgerissenes Knie holt böse kichernd auf. Ich beobachte, wie Aufgerissenes Knie am gesamten Rest des Feldes vorbeistürmt, um noch ein paar Fallen zu legen. Es gräbt hinter einer nicht einsehbaren Kurve eine Grube, über die es einen Teppich legt. Aber Liebeskummer und Unbefriedigte Neugier düsen darüber hinweg, ohne hineinzufallen.
Und wo steckt eigentlich Nierenkolik? Da, ganz hinten am Ende des Feldes trabt Nierenkolik die letzten taumelnden Schritte und erliegt einem Herzkasper. Vorne geht es weiter! Aufgerissenes Knie fällt mit dröhnendem Lachen einen Baum, über den die beiden Rivalen Unbefriedigte Neugier und Liebeskummer jedoch leichtfüßig hinwegsetzen.
Nur noch hundert Meter bis zum Sieg . . . Aufgerissenes Knie rast los. Offensichtlich ist es von Ehrgeiz gepackt worden. Es donnert an den anderen beiden vorbei! Und saust ins Ziel!! Sieg!!!
Als ich die Augen öffne und meine Gefühle zulasse, enttäuscht mich der große Schmerz nicht. Das ist keiner dieser lächerlichen, kleinen Schmerzen, die jeder kennt. Das ist ein prächtiger Schmerz. Ein Schmerz, der keine Zweifel darüber lässt, warum ich weinen will. Aber immerhin, das Fahrrad ist heil geblieben. CORINNA STEGEMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen