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In Mortiers Hirn

Kant oder lieber Kannibalismus? Johan Simons und seine Gruppe Zuidelijk Toneel Hollandia sorgen zum Abschluss der Salzburger Festspiele mit „Der Fall der Götter“ für einen Schauspiel-Höhepunkt

Simons will weiteran seinem Theater der Widersprüche arbeiten

von JÜRGEN BERGER

Die Szene spielt auf einer einsamen Insel. Johan Simons sitzt mit überkreuzten Beinen im Sand und notiert, was Gérard Mortier wie in Trance von sich gibt. Simons freut sich, dass sich alle doch an die Verabredung hielten und kein Handy dabeihaben. Endlich ist Ruhe. Mortier ist entspannt. Er lächelt wie der Dalai-Lama und breitet in einem weiten Erzählstrom aus, was sich über die Jahre in seinem Opernhirn an Wissen über Musiktheater vernetzt hat. Sagt er „Verdi“, leuchten die Augen. Simons schreibt noch schneller.

Dabei übersieht man fast, dass auch Frank Baumbauer mit von der Partie ist und fasziniert zusieht. Baumbauer allerdings ärgert sich insgeheim. Dumm, dass er sich an die Abmachung hielt. Jetzt gibt es weit und breit kein Handy, dabei könnte man genau aus dieser Inselszene ein unglaubliches Theaterprojekt zimmern. „Mortiers Hirn“ unter der Regie von Johan Simons müsste es heißen. Uraufführung wäre an den Münchner Kammerspielen – dann käme Recklinghausen, die Berliner Schaubühne, das Züricher Schauspielhaus.

Die Geschichte mit der Insel hat sich so bis jetzt noch nicht ereignet. In der Imagination von Johan Simons, der zusammen mit Paul Koek die holländische Theatergruppe Zuidelijk Toneel Hollandia leitet, könnte sie sich aber genau so abspielen. „Mortier weiß so viel über Musik, dass ich bei jeder Begegnung in sein Gehirn eindringen möchte, um seine eigentliche Passion zu entdecken und Theatermaterial daraus zu machen“, sagt Simons über den Gerade-noch-Chef der Salzburger Festspiele.

Wenn er das sagt, ist es noch zwei Stunden hin bis zur Premiere von „Der Fall der Götter“. Ein Stück, das vor zwei Jahren Premiere hatte, auf der Expo kurz gezeigt und jetzt nach Salzburg eingeladen wurde. Dort überschreitet Simons mit „Hollandia“ gerade das Portal zum großen europäischen Theatergeschäft. Es ist also nicht ganz selbstverständlich, dass er sich tatsächlich in der Kantine des Salzburg-Spielortes draußen auf der Pernerinsel in Hallein einfindet und auch noch relativ entspannt an einen der Holztische kommt.

Der Mann hat Nerven und weiß zu erzählen. Dass er sich seit zehn Jahren mit Deutschland beschäftige zum Beispiel, während Gastspielen aber das Gefühl gehabt habe, das deutsche Publikum laufe hinter „Hollandia“-Inszenierungen her. Die Konsequenz: „Wir beschlossen, im deutschsprachigen Raum künftig in deutscher Sprache zu spielen, und beschäftigten uns plötzlich mit völlig neuen Satzkonstruktionen und -melodien. Das Holländische wird ja eher aus der Kehle und auf den Punkt gesprochen. Deutsch dagegen ist eine sehr runde Sprache und wird hauptsächlich vorne im Mund gebildet. Seit wir das trainieren, wissen wir, dass Lippen auch beim Sprechen stark beschäftigt sein können“, sagt der 54-Jährige, der seit Anfang dieses Jahres Chef eines der größten holländischen Theaterunternehmen ist. Letztes Jahr wurde Simons gefragt, ob er die „Zuidelijk Toneel“-Gruppe übernehmen wolle. Er wollte, allerdings nur unter der Bedingung einer Fusion mit seiner bereits existierenden „Theatergroep Hollandia“. Das Ergebnis ist etwas lang geraten, heißt „Zuidelijk Toneel Hollandia“ und hat sein logistisches Zentrum in Eindhoven. Simons selbst begeistert die holländische Szene schon seit einigen Jahren und hat dabei eine starke Affinität zu deutschsprachigen Autoren. Büchner, Kroetz, Wedekind und Achternbusch hat er bereits inszeniert.

Mit „Der Fall der Götter“ wandte er sich nun einem ureigenen deutschen Thema zu. Im Zentrum des Stückes steht die adlige Industriellenfamilie der Barone von Essenbeck. Das Vorbild ist die Krupp-Dynastie, die während des Dritten Reiches Stahl zu Kanonen schmiedete und in deren Reihen die große Schicksalfrage lautet: Kant oder Kannibalismus? Man will Geistesadel pflegen, gleichzeitig allerdings löschen sich die Generationen und Direktoren des Clans gegenseitig aus, indem einzelne Mitglieder in einem Gespinst aus Korruption und Verrat wechselweise mit SA und SS paktieren.

Der Text basiert auf dem Drehbuch zu Luchino Viscontis „La caduta degli dei“ („Die Verdammten“). Simons hat die Bühnenfassung zusammen mit Koek zu einem Cinemascope-Schauspiel mit avantgardistischem Soundtrack verdichtet. Das Ergebnis ist eine außergewöhnliche Inszenierung, in der sechs „Hollandia“-Schauspieler blitzschnell zwischen verschiedenen Rollen im Industriellen-Clan springen. Star der Gruppe ist Jeroen Willems, der Baron Joachim von Essenbeck, dessen Enkel Martin und Friedrich Bruckmann spielt, einen der Direktoren der Stahlwerke. Beim Figurensprung landet Willems derart punktgenau, dass man im Fall des alten Barons einen senilen Paten zu sehen meint. Aus Bruckmann macht er einen Macbeth der Moderne, während er dem jungen Martin von Essenbeck einen gefährlich debilen Einschlag gibt. Willems spielt mit jeder Faser seines Körpers und jeder Tonlage, die seine Stimmbänder hergeben. Von ihm wird man künftig nicht nur hören, weil „Hollandia“ den Salzburger Festspielen zum Ende hin doch noch einen Schauspiel-Höhepunkt beschert hat. Willems wird wohl auch deshalb seinen Weg im deutschsprachigen Raum machen, weil Gérard Mortier 2002 die neue Ruhr-Triennale in Recklinghausen leitet und Frank Baumbauer mit den Münchner Kammerspielen neu durchstartet. Überall, wo Mortier und Baumbauer sein werden, wird auch „Hollandia“ sein. 2003 etwa produziert die Gruppe für Mortier ein musiktheatralisches Werk nach einer Idee von Paul Koek. Und Baumbauer hat für die Münchner Kammerspiele schon diese Saison Gastspiele der „Hollandia“ angekündigt, natürlich auch „Der Fall der Götter“. Der ist aber bereits im September in Stuttgart zu sehen, nebst einem zweiten Deutschland-Stück: „Ungelöschter Kalk“, ein Stück über den niederländischen Kommunisten Marinus van der Lubbe und den Reichstagsbrand. Mit dem Stuttgarter Gastspiel ist „Hollandia“ dort angelangt, wo ihre Entdecker für den deutschen Sprachraum sitzen: Stuttgarts Schauspiel-Intendant Friedrich Schirmer und seine Mitstreiterin Marie Zimmermann.

Als Simons erzählt, was in den nächsten Jahren alles auf ihn zukommt, ist es noch etwa eine Stunde hin zur Salzburg-Premiere. Der Mann wirkt immer noch ruhig. Ihm ist klar, dass er auch seinen holländischen Stammsitz in Bewegung halten und weiter an seinem Theater der Widersprüche arbeiten muss. „Mich fasziniert vor allem, dass der Mensch in einem Moment sehr bestimmt etwas behaupten kann, im nächsten Moment aber das genaue Gegenteil sagt und der Körper sowieso eine ganz andere Sprache spricht“, sagt Simons, dessen Körper kurz vor der Premiere bei genauerem Hinsehen dann doch etwas müde wirkt. Hinterher aber, beim Applaus, steht er im weißen Hemd und Jeans so auf der Bühne, als sei er völlig ausgeruht.

„Der Fall der Götter“, vom 24.–26. 8. in Salzburg, am 12., 14. und 15. 9. im Staatstheater Stuttgart

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