Die wahren Pioniere Europas sind Gebrauchtwagenhändler

Der Historiker Karl Schlögel zu der Frage, warum die Westeuropäer noch nicht reif sind für die EU-Osterweiterung. Und über die Bedeutung von Kriechströmen für Europas Einheit

taz: Herr Schlögel, Gerhard Schröder verbreitet auf seiner Sommerreise Optimismus über die Chancen der EU-Osterweiterung. Politiker sind zum Optimismus verpflichtet – warum sehen Sie die Lage skeptischer?

Karl Schlögel: Man meint immer, Politik sei alles, aber das stimmt nicht. Politik ist ein ziemlich ohnmächtiges Geschäft. Auch die Politik kommt bei der Osterweiterung nicht vorbei an dem, was man die Asymmetrie des Interesses nennen kann: In Riga, Petersburg und Prag blicken die Leute erwartungsfroh auf die europäische Vereinigung, im Westen dagegen mit einer Gleichgültigkeit, die mich völlig verblüfft.

Warum verblüfft?

Weil den Menschen im Westen entgeht, was Europa heute ist. Wer Riga und Krakau und Lodz nicht gesehen hat, der hat von Europa nur die Vorstellung dieses EU-Europas, dieses Klein-Europas. Die Folge davon ist: Wir sprechen über die Osterweiterung nur mit eingezogenem Kopf. Viele im Westen glauben, der Prozess der europäischen Einigung läuft sowieso – und so bleibt das Ganze an den Politikern und an den Brüsseler Institutionen hängen.

Heißt das, die Osteuropäer sind besser auf die EU-Erweiterung vorbereitet als wir EU-Bürger?

Durch die Wendeerfahrung von 1989/90 sind sie viel gefasster, viel besser auf Umbrüche vorbereitet. Sie haben es schon einmal geschafft, und bemerkenswert gut geschafft, ihr Leben neu einzurichten. Sie wissen, wie es ist, wenn ganze Karrieren plötzlich zu Ende sind: wenn Lehrer oder Ingenieure plötzlich Basarhändler werden, wenn sie drei oder vier Berufe haben.

Woran fehlt es den Westeuropäern?

Die Westeuropäer haben im Kopf noch die Trennungslinien der Zeit vor 1989/90. Das ist auch ein Generationenproblem. Jede Generation tendiert dazu, spätestens ab 40 das zu machen, was sie immer gemacht hat. Da dieses Westeuropa so stabil, so in sich geschlossen ist, gibt es keinen Grund für die Leute, über ihren Horizont hinauszugehen. In Osteuropa dagegen hat es zum Beispiel eine völlige Reorganisation des touristischen Horizonts gegeben: Die Menschen dort sind millionenfach in den anderen Teil Europas gefahren.

Zum Shopping in Berlin und zum Sonnenbaden in Rimini.

Ja natürlich, aber den Tourismus zu belächeln als Form des Massenvergnügens unterschätzt seine Bedeutung für die Transformationsprozesse in Osteuropa – und letztlich für die europäische Einigung. Auf den Konsumtrips in den Westen lernen die Besucher zum Beispiel, wie funktioniert ein Café, was ist Servicekultur? Die vielen westlichen Wirtschaftsberater, die für teures Geld in Osteuropa ausgeschwärmt sind, haben nicht so viel erreicht.

Klingt, als hätte sich Gerhard Schröder auf seiner Reise die Abstecher nach Tschechien und Polen sparen können.

Natürlich muss es die Hochebene europäischer Politik geben. Aber die dramatischen Veränderungen beim Zusammenwachsen Europas finden heutzutage nicht an Konferenztischen statt. Die Pioniere des neuen Europas sind nicht Politiker, sondern litauische Gebrauchtwagenhändler.

Wie bitte?

Die Litauer kommen zum Autokauf ins Ruhrgebiet und überführen von da Wagen nach Osteuropa. Sie sind nur ein Teil jener Bewegungen in Europa, die ich Kriechströme nenne: sie bestimmen die Realität des offenen Europas, tauchen aber im offiziellen Europa-Diskurs überhaupt nicht auf. Dazu gehört etwa auch die Schwulenszene, die sich längst von Paris bis Petersburg erstreckt. Es gibt dazu eine spannende Studie, die zeigt, dass die Suche nach dem erotischen Kick ein ganz wichtiges Moment gewesen ist zur Überwindung der Ost-West-Trennung – in beide Richtungen.

Aber zählt dazu nicht auch der Frauenhandel?

Ich sage ja nicht, dass Kriechströme nur erfreuliche Seiten haben. Aber sie beschleunigen die Prozesse von Austausch und Annäherung, das gilt selbst für die grenzüberschreitende kriminelle Intelligenz, denn sie ist der bürokratischen Intelligenz zehn Jahre voraus.

Heißt das, die Politik hat bei der Gestaltung der Osterweiterung zwangsläufig das Nachsehen?

Nein, aber wirkungsvoll ist sie nur, wenn sich durch sie unsere Vorstellung von Europa ändert. Ein großartiges Beispiel dafür ist die europäische Eisenbahnkommission, denn dort wird Europa neu vermessen. Ob wir im nächsten Jahrzehnt in zwei Stunden von Berlin nach Warschau fahren oder immer noch sechs Stunden dafür brauchen, bestimmt zugleich darüber, ob uns Polen nah oder fern sein wird – nicht nur auf den Schienen, sondern auch im Empfinden. INTERVIEW: PATRIK SCHWARZ