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Schwimmen gegen die schlimme Zeit

Der Berliner Bernd Wünsche ist einer der erfolgreichsten Seniorenschwimmer der Welt: Noch heute hängt er die Vereinsjugend ab – weil die Schwerelosigkeit des Wassers für ihn etwas mit dem Überleben zu tun hat: Der frühere Nationalschwimmer hat durch den Sport seinen Suff überwunden

von YVONNE GLOBERT

Manchmal kommt der Erfolg erst spät, und denen, die ihn haben, bedeutet er dann nicht mehr viel. Bernd Wünsche ist jetzt 63 und einer der erfolgreichsten Seniorenschwimmer Deutschlands, sogar der ganzen Welt. Die Auszeichnungen in der Kiste daheim in Wilmersdorf sind in den letzten Jahren so viele geworden, dass er seine große Hand hineintauchen und in den klimpernden Medaillen herumwühlen kann.

Lange muss der Mann mit dem strengen Schnauzbart und der Offiziersmiene überlegen, dann doch in seinen Unterlagen nachschlagen, bis er sie alle gedanklich zusammenhat: die großen Siege der vergangenen Jahre. Vize auf 200 Metern bei der Weltmeisterschaft in Casablanca vor drei Jahren. In den Top 10 der World Masters, den weltbesten Schwimmern seiner Altersklasse, liegt er auf Platz 5. Alles in seiner Lieblingsdisziplin Brust.

An diesem Wochenende hat er bei den Deutschen Seniorenmeisterschaften im hessischen Wetzlar einen Titel zu verteidigen: den 2. Platz auf 100 Metern. Das alles aber ist nicht wichtig.

Es nieselt. Grau ist es heute und bitterkalt. Die Betontribünen des Olympiabades scheinen konturlos und gehen nahtlos in den Himmel über. Bernd Wünsche ist das egal. 400 Meter freier Stil liegen vor ihm. Langsam gewöhnt er die Muskeln an die Kühle des Wassers. Ein gelbes Styroporbrett klemmt zwischen seinen Oberschenkeln, um den Armmuskeln das ganze Körpergewicht aufzubürden.

Nichts anderes nimmt er wahr als den Widerstand des Wassers gegen Hände und Ellenbogen. Nicht den kalten Regen, nicht den Renovierungslärm in der maroden Sportkulisse. Nur manchmal bekommt er mit, dass sich ein paar Damen beim Personal beschweren, über den Herrn, der auf der rechten Außenbahn immer an ihnen vorbeiprescht, während sie – beim Bade – in ein Gespräch vertieft sind.

„Hallo, Benno“, grüßt ein Vereinskollege Wünsche mit seinem Spitznamen. Irgendwer hat ihn irgendwann einmal aus der Taufe gehoben. Klaus Eppler, der Vereinsmann vom SG Schöneberg, fährt mit zur Deutschen Meisterschaft. Bernd Wünsche ist besorgt. „Die faule Schluppe trainiert zu wenig.“ Dann kneift er dem jungen Spund, zwei Jahre jünger als Wünsche, in die Wangen. „Nicht, dass du als Staffelbremse nach Hause kommst.“

Wenn Bernd Wünsche schwimmt, ist er ganz Kopf, die Augen – so blau wie die Kacheln des Bassins – fest auf den Beckenrand gerichtet. Den Ort im Blick, wo er zur Wende ansetzt, sich mit den Füßen voller Kraft zurückkatapultiert in die Bahn. „Hier hol ich mir die Punkte im Wettkampf wieder“, sagt er und in seinen Augen blitzt es ehrgeizig. „Hundertprozentiger Kopfeinsatz, sich überwinden, flott werden.“ Das Schwimmen treibt ihn an.

15 Jahre geht das schon so, jeden Morgen. Meist mehrere Stunden lang. Das tägliche Programm hat ihm Vitalität geschenkt: Das Kreuz ist breit, die sonnengebräunte Haut über den Brustmuskeln straff. „Etwas Besseres als das Schwimmen hätte dir gar nicht passieren können“, sagt der Arzt. Wünsche ist Asthmatiker. Der Sport hat seine Atemmuskulatur gestärkt, die feucht-warme Luft die Bronchien beruhigt. Wünsches Blutdruck ist optimal: 130 zu 75.

Es gab eine Zeit, da zeigte das Messgerät „abenteurliche Werte“ von 220 zu 120. Ein Infarkt lag nah. Über diese Zeit spricht Wünsche nicht gern. Es geht um Alkohol. Wenn es einen Grund dafür gab, dass er ein Trinker wurde, mag er ihn nicht nennen. Wünsche, der ein Leben lang Sport getrieben hatte, interessierte sich nicht mehr dafür. Irgendwie war er in den Suff gerutscht.

Bis zum Urlaub auf Gran Canaria. Wünsche will sich abkühlen im Pool und schwimmt ein paar Runden. Täglich werden es mehr. Plötzlich ist es wieder da, das gute Gefühl, das er heute so schnell verliert, sobald er auch nur einen Tag keine Bahnen zieht. Sein erster Wettkampf nach langer Abstinenz ist ein Seniorenschwimmen im bayerischen Kulmbach. Wünsche ist so nervös, dass er glatt vom Startblock fällt. „Das Schwimmen hat mir in meiner schlimmsten Zeit geholfen“, sagt er heute. Den Blick ein wenig stolz auf das lebensrettende Element gerichtet.

Die Erklärung, warum sich ein 63-Jähriger seit 15 Jahren jeden Morgen aus seinem warmen Wilmersdorfer Bett pellt, um um 7.30 Uhr am Startblock zu stehen, liegt in einem ungenauen Begriff, der sich am besten mit einem guten Körpergefühl umschreiben lässt. Bernd Wünsche, ein Mann wie ein Baum, 1,90 Meter groß, 100 Kilo schwer, treibt wie ein Stamm durch das Wasser. Er gleitet. Und in diesem Wort offenbart sich, dass ihm die Natur das Zeug für eine Sportlerkarriere in Form einer optimalen Schwimmlage mitgegeben hat. „Nicht jeder hat diese Gabe“, sagt er und deutet auf einen jungen Mann, der gerade Bahn um Bahn macht. Der Laie sieht nur einen schnellen Schwimmer. Aber wieviel Kraft er aufwendet, wie er sich abrackert, um den Körper an der Oberfläche zu halten, das erkennt Wünsche ganz genau. „Aus dem wird nix.“ So ist das mit der Natur. Ihm, Bernd Wünsche, hat sie einen Eindruck davon beschert, wie es ist, schwerelos zu sein. Und das ist es wohl, was ihn immer wieder ins Wasser zieht.

Ganz sicher ist es aber auch ein Nachholbedürfnis, ein später Ausgleich für verloren gegangene Chancen in der Jugend. Ein Profi hätte Wünsche schon früh werden können, als er mit seinen Eltern noch in Dresden lebte. Gescheitert ist es an der Sturheit seines Vaters. „Er hat das Regime gehasst“, erzählt Wünsche. Die Antipathie reichte bis in die kleinsten Ausläufer des DDR-Systems. Die Folge: Wünsche durfte nicht Mitglied im Schwimmverein werden. Da konnte ein Trainer noch so oft an den Vaterstolz appellieren, weil der kleine Bernd mal wieder die Vereinsjungs geschlagen hatte. Bade- beziehungsweise Schwimmmeister, wie es korrekt heißt, ist Wünsche dennoch geworden. Es hätte mehr werden können.

Denn in der DDR, erzählt Wünsche ein wenig wehmütig, hätte ein Brustschwimmer wie er die beste und zugleich härteste Ausbildung bekommen: Allein wegen der Strömungskanäle in den DDR-Becken, deren Widerstand es zu brechen galt. Angefeuert von Trainern, die alle auf der Leipziger Sportschule, der sozialistischen Kaderschmiede, ausgebildet worden waren.

Es gab eine zweite Chance: 1960 bei den Olympischen Spielen in Rom. Bernd Wünsche, der längst in Hamburg lebte, weit weg vom Regime, in dem es keine Karriere für ihn gab, hatte es auch ohne DDR-Training in die Nationalmannschaft geschafft. Nach Italien kam er nicht mehr. Er weist auf seinen linken Oberschenkel: „Wegen einer Überdehnung der Innenbänder. Typische Verletzung bei Brustschwimmern.“ C’est la vie.

Jetzt als Seniorenschwimmer sieht er die ganze Welt: Rio, Marokko, nächstes Jahr Neuseeland. Und jetzt eben Wetzlar. Ein bisschen Nervosität fährt immer mit. „Das ist ja auch ein hoher Stressfaktor“, sagt er fast entschuldigend. Nervennahrung ist notwendig. Gesund muss sie nicht unbedingt sein. Kekse mit Füllung oder in Schokolade getunkt mag Wünsche am liebsten. Die Schwäche gönnt er sich.

Zur Vorbereitung liefert er sich öfter mal einen Wettkampf mit der Jugend, die ihn im Olympiabad allzu gern von der Bahn drängen möchte. „Ist ja eigentlich unfair“, gibt er zu. Dass er gewinnt, weiß er im Voraus.

Einen Sieg erhofft er sich auch jetzt. Seine Lieblingsstrecke, die 50 Meter Brust, möchte er in 36 Sekunden schaffen. Bei der Europameisterschaft im Juli auf Mallorca brauchte er etwas länger. Der erste Platz lag greifbar nah. „Wenn ich nicht so einen saublöden Anschlag gemacht hätte.“ Gewonnen hat der Ungar Bela Fabian. Die Seniorenschwimmer kennen sich noch aus Zeiten, als beide für ihr Nationalteam schwammen. „Sei doch froh, dass wir überhaupt noch dabei sind“, hat Fabian gesagt. Wünsche blickt aufs Wasser und lächelt in sich hinein. „Na ja, er hat schon recht. Irgendwie.“

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