Verschlungene Wege in den Vordergrund

In der Mediengesellschaft muss das Individuum die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen – aber wie sieht dieses Angesehenwerden aus?

Körperlich wird Aufmerksamkeit mit Sex, Sport und Gewalt geschaffen

von MARKUS SCHROER

Ein Individuum, das Individuum sein will, muss sich von anderen Individuen unterscheiden. Denn Individualität ist mit dem Anspruch verbunden, anders als andere, einzigartig und besonders zu sein. Dieser Anspruch muss gegen anders lautende Zuschreibungen und Zumutungen verteidigt werden. Es ist keineswegs so, dass alle Institutionen und Organisationen der modernen Gesellschaft den Einzelnen im Individuum-Sein unterstützen. Zwar hat sie ihn gegenüber vorherigen Gesellschaftsformen aus den engen Banden herausgelöst und ihm überhaupt erst erlaubt, sich als Individuum zu behandeln, doch fördert sie ihn nicht immer und überall. In vielen Situationen wird er vielmehr in standardisierte Rollen gepresst, in denen es schwer wird, den Anspruch auf Individualität aufrechtzuerhalten.

Als Konsumentin, Mutter, Wählerin oder Touristin wird ein Individuum wie das andere behandelt, was jedoch auch eine vorübergehende Entlastung verspricht von der Zumutung, Individuum sein zu müssen. Die Individualität des Individuums ergibt sich folglich nicht aus der Übernahme der jeweiligen Rolle, sondern aus der je einmaligen Kombination von Rollen, die mit der eines anderen Individuums niemals völlig deckungsgleich ist, und aus der mitunter mühsamen Anstrengung jeder Rolle eine einzigartige, individuelle Note abzugewinnen. Zwar ist man Vater, Ehemann und Kneipengänger, wie der eigene Urgroßvater es auch schon war und der Nachbar es ebenfalls ist, man ist es aber doch auch wieder auf ganz andere, eben individuelle Weise. Aber in diesem Sinne Individuum zu sein oder sich selbst als solches zu behandeln, reicht längst noch nicht aus.

Niemand gibt sich damit zufrieden, heimlich und in aller Stille Einzigartigkeit für sich zu beanspruchen. Der Anspruch, Individuum zu sein, lässt sich nicht im Verborgenen ausleben. Er braucht vielmehr die Bestätigung durch andere. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, für sich und seine Handlungen Akzeptanz, Achtung oder Anerkennung zu erlangen, sondern darum, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die leitende Unterscheidung der Medien- und Informationsgesellschaft, in der wir leben, lautet nicht Achtung/Missachtung bzw. Anerkennung/ Nichtanerkennung, sondern Aufmerksamkeit/Ignoranz. Nichts fürchtet das postmoderne Individuum mehr als unauffällig, unsichtbar zu bleiben. Die eigene Existenz scheint ungewiss, solange sie nicht durch Blicke der anderen bestätigt wird.

Doch diese Blicke auf sich zu ziehen ist in einer individualisierten Gesellschaft nicht eben einfach. Dass man nahezu alles machen kann, es aber niemanden mehr interessiert, ist so etwas wie der Fluch der Individualisierung. Es gab Zeiten, in denen schon kleine Abweichungen von der Norm auf Aufmerksamkeit stießen. Lange Haare genügten.

Heute, da sich allgemein verbindliche Normen und Konventionen mehr und mehr verflüchtigen, ist es weitaus schwerer, über Abweichung Aufmerksamkeit zu erzielen. Und doch gibt es keinen anderen Weg. Erst wenn man eine Weise der Selbstdarstellung gefunden hat, die Neuigkeitswert für sich beanspruchen kann, kann man sich der Aufmerksamkeit der anderen sicher sein; einer Aufmerksamkeit, die einen – und sei es nur für kurze Zeit – in den Vordergrund rückt, während die anderen in den Hintergrund verbannt werden. Wie sich einst der Fürst in einem Gemälde so darstellen ließ, dass er im Vordergrund in ganzer Pracht erschien, die untergebenen Befehlsempfänger aber im Hintergrund nur schemenhaft auftauchten, während Laufburschen erst gar keinen Einlass ins Porträt fanden, so will auch heute jeder versierte Selbstdarsteller im Vordergrund stehen und die anderen in den Hintergrund verbannen. Doch der Erfolg dieser Anstrengung ist meist nur von kurzer Dauer, da sich auch die anderen in den Vordergrund drängen.

Niemand mehr gibt sich mit der Rolle des Statisten ab, der nur dafür da ist, andere in noch glanzvollerem Licht erscheinen zu lassen. Die einst so viel beschworene „gesichtslose Masse“ gibt es immer weniger, weil jeder bestrebt ist, ins Rampenlicht zu rücken. Da die Ressource Aufmerksamkeit so knapp ist und die Konkurrenten so zahlreich, fallen die Versuche, auf sich aufmerksam zu machen, immer drastischer und greller aus. Als ein Aufmerksamkeitsgenerator par exellence hat sich dabei der Körper erwiesen: Über ihn lässt sich rascher und einprägsamer vermitteln, wer man sein und wie man gesehen werden möchte, als es die Sprache vermöchte. Ebenso sind alle körpernahen Aktivitäten wie Gewalt, Sex und Sport beinahe ein Garant für öffentliche Aufmerksamkeit.

Doch ob mit oder ohne Einsatz des Körpers: Die Reihe derer, die um Aufmerksamkeit ringen, reicht vom Politiker, dessen Karriere mit der Aufmerksamkeit der Medien gefördert, stabilisiert und zerstört werden kann, über die Globalisierungskritiker, die ihre Motivation am Protest nicht selten mit den Worten beschreiben: „Wir wollten zeigen, dass es uns gibt“, bis hin zum „Busenwunder“ Lolo Ferrari, von der der Ausspruch überliefert ist: „Ich will, dass man mich ansieht, sonst glaube ich nicht, dass es mich gibt.“ Ob man sich mit Hilfe von Web-Cams rund um die Uhr beobachtbar macht, in Talkshows sein Innerstes nach außen kehrt oder den Auftritt bei Massen-Events bevorzugt: Stets weiß man sich einem wahren Blickgewitter ausgesetzt, das die eigenen Existenz zu garantieren scheint, nach dem Motto: „Ich werde gesehen, also bin ich!“