: Verdauungsprobleme
Widerhaken im kollektiven Gedächtnis: Tom Lampert erzählt in „Ein einziges Leben“ acht irritierende, aufregende Geschichten aus dem letzten Krieg – radikal individuell und doch wie Parabeln zu lesen
von ANITA KUGLER
Es ist nur eine winzige Geschichte, eine von acht aus dem Krieg. Tom Lampert erzählt in seinem eben bei Hanser erschienen Buch „Ein einziges Leben“ über den Hund R. Dieser war 1942 in das Vernichtungslager Treblinka versetzt worden, zerfleischte dort auf Kommando Häftlinge oder riss ihnen die Genitalien ab. Wenn sein Herr, der SS-Oberscharführer Kurt Franz, brüllte: „Mensch, faß den Hund!“, dann verwandelte sich das kalbsgroße Tier in eine Bestie, in eine Monstermaschine, die immer angriff. Immer!
Die Geschichte über den Hund R. heißt „Eine autoritäre Persönlichkeit“. Sie ist drei Seiten kurz, dazu kommen noch anderthalb Seiten Quellennachweise. Jedes Detail über den Hund R. ist den Akten entnommen, dort wo die Quellen schweigen, schweigt auch der Historiker Tom Lampert. Er imaginiert oder spekuliert nichts hinzu, ordnet auch nichts irgendwo ein oder unter, wie es seine Kollegen sonst immer tun müssen, und reichert erst recht nichts mit moralisch wertenden Attributen wie beispielsweise „einzigartig“ oder „grausam“ an. Lampert, knapp 40 Jahre alt, in den USA promoviert und heute in Berlin lebend, macht nichts anderes, als das in den Dokumenten verstreute Wissen über den Hund R. zu sammeln und zu ordnen, um es dann, auf das Wesentliche reduziert und ins Präsens übersetzt, dem Leser als „Erzählung“ anzubieten. Und dies macht er genial, denn wie alle Geschichten von Tom Lampert kommt auch diese vom Hund R. klein daher, ist in Wirklichkeit aber groß, weil sie exemplarisch ist. Man kann sie als eine Geschichte über den konkreten Hund R. lesen, der in Treblinka tötete, aber auch als Parabel: als eine Parabel über die Deutschen im 20. Jahrhundert. Diese zu erkennen, überlässt er dem Leser. „Mehr als die Chance, sich selbstständig zu verhalten“, schreibt er zu seiner Arbeitsweise im Nachwort, „gibt kein Buch.“
Als Treblinka 1943 geschlossen wird, schließt sich der Hund einem neuen Herrn an: Dr. S., Chefarzt des Kriegslazaretts von Ostrow. Aber jetzt ist R. ein faules und gutmütiges Tier, liegt fast immer unter dem Schreibtisch des Arztes und tut niemand etwas zuleide. In einer Anmerkung steht, dass er 1944 nach Schleswig-Holstein evakuiert und zwei Jahre später wegen Altersschwäche eingeschläfert wird.
Damit ist diese Geschichte aber nicht zu Ende. Tom Lamperts Erzählkunst besteht darin, ausschließlich über den Hund zu berichten, aber im Subtext über das, was sich heute „Vergangenheitsbewältigung“ nennt. Er schreibt über R., aber gleichzeitig über die juristische Praxis, Täter in Gehilfen zu verwandeln, ihnen zu unterstellen, dass sie ihre Taten nicht begehen wollten, sondern sie nur auf Befehl von Hitler und Himmler begangen haben; und darüber, dass im Zuge der Westintegration der Bundesrepublik aus mordgierigen Bestien friedliche Rentner wurden. Diese Analogie entschlüsselt er mit keinem Wort, aber er erzählt sie, indem er die Geschichte über den Hund R. einfach weitererzählt.
1965 beschäftigen sich die Richter des Landgerichts Düsseldorf in einem Prozess gegen den früheren SS-Oberscharführer Kurt Stang auch mit dem Verhalten des Hundes in Treblinka und Ostrow. Sie bestellen einen Sachverständigen, es ist das frühere NSDAP-Mitglied Dr. Konrad Lorenz, inzwischen führender Verhaltensforscher der Bundesrepublik. Die Geschichte sei im Ganzen glaubhaft, schreibt dieser in seinem Gutachten, denn „ein Hund sei das Spiegelbild des Unterbewußten seines Herrn“. Wenn ein Hund – und Mischlinge wie R. seien besonders feinfühlig – eine neue „Hund-Herr-Beziehung“ eingehe, dann könne sich sein Charakter völlig wandeln. Es sei deshalb möglich, dass das Beißverhalten des Hundes in Treblinka auch ohne Dressur zustande gekommen sei. „Wenn ein Hund“, so der spätere Nobelpreisträger Lorenz, „sich einem Herrn angeschlossen habe, erahne er förmlich, welche Absichten dieser habe.“
Es gibt viele Gründe, diesen Geschichtenband in den Bücherhimmel zu loben, ihm eine gewaltige Auflage zu wünschen und den Schulbibliotheken das Geld, damit sie es sich anschaffen können. Sten Nadolny hat mit seiner Huldigung, so ein Buch „habe ich mir schon lange gewünscht“, exakt das Gefühl getroffen, das sich beim Lesen geradezu zwingend einstellt. Dankbarkeit darüber, dass jemand herkommt, der mit viel Neugier und historischer Kompetenz, überaus spannend und ohne erhobenen Zeigefinger Lebensgeschichten rekonstruiert und erzählt, einfach so, wie sie sich ergeben haben, oder – wenn die Quellen für eine vollständige Rekonstruktion nicht ausreichen – mit einem Blitzlicht ausleuchtet, wie dieser oder jener Mensch in dieser oder jener Lebenssituation während der Zeit des Holocaust gehandelt oder eben nicht gehandelt hat.
Es ist diese Mischung von Dokumentarliteratur einerseits und Subversion andererseits, die das Buch so faszinierend macht. Lamperts Arbeitsweise erinnert stark an Alexander Kluges „Schlachtbeschreibung“, an diese 1964 verfasste Dokumentenmontage über Stalingrad, in der Hitler nur Hi. genannt wird und General Paulus nur P., um damit zur Enthierarchisierung der Tatsachen beizutragen und die subjektive Sichtweise zu betonen, aber auch um den Blick für das Exemplarische zu öffnen.
Auch Lamperts Protagonisten heißen nur K. oder B., obwohl es sich bei K. um den Generalkommissar von Weißruthenien, Wilhelm Kube, handelt, und bei B. um den SS-Obergruppenführer und Chef der Bandenbekämpfungsverbände im Bereich Heeresgruppe Mitte, Erich von dem Bach-Zelewski.
Die Titelgeschichte „Ein einziges Leben“ handelt über K.s Versuche, die Sicherheitspolizei daran zu hindern, nach den weißrussischen auch noch die deutschen Juden im Ghetto von Minsk zu erschießen, und von deren Scheitern. K., dem cholerischen und eitlen Mann, Altparteimitglied und Hetzer gegen das Ostjudentum, im Herbst 1943 von Partisanen in die Luft gesprengt, gelingt es nur, ein einziges Leben zu retten. Das von Dr. Karl L. aus Berlin, Oberleutnant der Kaiserlichen Marine, Freikorpskämpfer in Oberschlesien und Halbjude evangelischen Glaubens.
Auch über L. gibt es eine Geschichte. Sie heißt „Ein seltener Gerechtigkeitssinn“, und sie tragisch zu nennen wäre geradezu ein Euphemismus. Lakonisch und wie immer dicht an den Quellen entlang erzählt Lampert, wie L., durch Kubes Protektion im April 1942, von Minsk nach Theresienstadt überstellt wird und wie L. dort als Leiter der Ghettopolizei preußische Verhältnisse durchsetzen will. Auch L. scheitert. Sein unerbittlicher Kampf gegen die Korruption innerhalb der Lagergesellschaft, sein rigider Fundamentalismus passen nicht in eine Zwangsgemeinschaft, in der Wolfsgesetze gelten.
Nach der Befreiung leiten tschechische Behörden gegen L. ein Verfahren wegen Kollaboration ein. 1946 wird er freigelassen, weil kein Verdacht sich erhärten ließ. In Australien will er eine neue Heimat finden, kehrt aber 1952 zurück nach Berlin, auch weil er in Deutschland auf Entschädigung hofft und seine Unternehmen rückerstattet haben will. Es beginnt ein jahrzehntelanger Kampf mit dem Entschädigungsamt und den Gerichten. Als L. 1975 stirbt, sind die Verfahren immer noch nicht entschieden, 1979 werden die Akten geschlossen, das Gericht erklärt die „Verfahren für erledigt“.
Am provokativsten zeigt sich Lamperts Inszenierungstechnik in der Erzählung über B. Auf 37 Seiten und belegt durch knapp 11 Seiten Quellennachweise wird in „Die Unfähigkeit zu verdauen“ geschildert, wie der fanatische Nationalsozialist, Kriegstreiber und Antisemit Bach-Zelewski ab Sommer 1941 immer wieder die Exekutionsplätze in Weißrussland verlassen muss, weil er an Darmblutungen leidet und nicht scheißen kann. Nach einer Hämorrhoidenoperation schreibt er 1942 in sein Tagebuch: „Jeder Mensch muß sterben . . ., selbst der mutigste Soldat (steht) voll Unglauben dieser unerbittlichen Tatsache gegenüber. In diesem Fall hat der religionsgebundene Mensch es leichter, als der Gottgläubige mit seinem Verstand.“ Zurück in Weißrussland, schafft er unerbittliche Tatsachen. Innerhalb von drei Monaten werden 81.000 Partisanen „unschädlich“ gemacht.
Als die Rote Armee nach Westen vorrückt, erleidet er einen Rückfall. Am 22. März 1944 reportiert ein Arzt an Himmler persönlich: „Aus der längerwährenden Untersuchung erfuhr ich von B., daß seine vorwiegenden Beschwerden durch Stuhlunregelmäßigkeiten im Sinne einer Verstopfung und einer Schwäche der Schließmuskulatur des Afters bedingt würden.“ Im August 1944 wird B. mit der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes beauftragt, ein paar Tage später blutet er selbst. Für längere Kuren ist keine Zeit mehr. Erst Sondereinsatz in Budapest, endlich der Endkampf in Pommern.
Im Mai 1945 gerät B. in amerikanische Gefangenschaft, profiliert sich als Judenfreund und Widerstandskämpfer und tritt bei den Nürnberger Prozessen über 20 Mal als Zeuge der Anklage auf. Erst im Zuge des Ulmer Einsatzgruppenprozesses 1958 wird gegen ihn wegen Judenerschießungen ermittelt. 1962 stellt das Nürnberger Landgericht das Verfahren ein, weil er inzwischen wegen Mordes an fünf Kommunisten im Jahre 1933 zu dreimal „lebenslänglich“ verurteilt worden ist. Bei den Judenerschießungen, so das Gericht, könne die Anklage höchstens „wegen Beihilfe zum Mord“ erfolgen. Zehn Jahre später wird B. aus dem Gefängnis entlassen und stirbt drei Wochen später in einem Münchner Krankenhaus.
B. hat sein Verdauungsproblem auf seine Weise bewältigt. Aber Lampert, indem er die Geschichte aufschreibt, insistiert darauf, dass sie eigentlich unverdaulich ist. B.s Unfähigkeit zu verdauen erinnert an Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“, ähnlich wie die „autoritäre Persönlichkeit“ des Hundes R. Adornos Studie über den „autoritären Charakter“ assoziiert. Alle acht Geschichten erzählen, was mit Menschen, ob Täter oder Opfer, geschieht, wenn sie glauben, Einfluss nehmen zu können oder sich arrangieren zu müssen. Tom Lampert erklärt nichts weg, hält alle Widersprüche fest. Das Buch ist ein Widerhaken im kollektiven Gedächtnis. Es ist ein großartiges Buch.
Tom Lampert: „Ein einziges Leben. Acht Geschichten aus dem Krieg“. Hanser Verlag, München 2001, 316 Seiten, 42 DM
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