: Die Scholle des Bauern
Sommerloch (8): Die Stadt brodelt. Bis man es satt hat und das Weite am Stadtrand sucht
von PETRA WELZEL
Wie alt werden eigentlich Städte, bis sie sterben? Bis sie aus lauter Fress- und Fettsucht platzen, wie der Fettsack mit Airbag-Bauch in Monty Pythons Film „Der Sinn des Lebens“? Ein letztes hauchdünnes Pfefferminzplätzchen und alle Kanäle laufen über. Ein allerletzter Gerwerbepark, ein allerletztes Einkaufscenter auf der Wiese, eine allerallerletzte Wohnanlage im Grünen – es macht krawumm und Berlin samt seinem Speckgürtel explodiert im höllischen Inferno.
Manchmal habe ich solche Fantasien. Vor allem im Sommer, wenn die wachsenden Bauchringe wie die Jahresringe eines Baumes der Sonne nicht mehr weichen. Wenn der Briefkasten regelmäßig Broschüren ausspuckt, die mir einen Wohnsitz am Stadtrand schmackhaft machen wollen. Oder wenn ich selbst vor der Lieblingsbar nach Luft japse, weil die Schwüle zwischen den alten hohen Häusern der Verhältnisse harrt. Weil überall Menschen wie Pilze aus dem Boden schießen, die man in den übrigen Monaten des Jahres nie sieht.
Anfangs ist das jedes Jahr aufs Neue aufregend. Die Stadt brodelt und ich koche mit. Bis ich es satt habe. Das ist, als würde man täglich Falafel oder Sushi essen. Irgendwann hängt’s einem zum Hals raus. Und das Einzige, was hilft, ist Abstinenz. Der Stadt den Rücken kehren. Sich am Potsdamer Platz oder den Yorckbrücken in die S-Bahn setzen und – nach Lichtenrade fahren. Der Berliner Autor Thomas Kapielski bleibt dort immer in der Bahnhofsdestille am Zapfhahn hängen. Mich treibt’s weiter. Fünf Minuten nur zu Fuß entlang der Prinzessinnenstraße und man ist draußen. Es ist, als würde man Naipauls Buch „An der Biegung des Flusses“ zuschlagen und die Fronten gewechselt haben: Man steht vor Äckern und Wiesen, Maisfeldern und Obstbaumalleen, Wildwuchs und Kultur und ist sich sicher, dass einem nach nichts anderem gedürstet hat.
Vor zwölf Jahren lief man hier noch schnurstracks auf die Berliner Mauer zu. Endstation. Sehnsucht. Auf beiden Seiten. Die Westberliner wünschten sich Auslauf, die Ostberliner und Umländer Einlass. Die einzigen menschlichen Wesen, die das Ökotop namens Niemandsland besetzten, waren Volksarmisten in Jeeps. Aber die haben sich nicht um die Sträucher und Hecken gekümmert, nicht um Brombeeren, wilde Kräuter und Wildblumen, die dort wachsen. Ihre wachsamen Augen galten dem Bauern, der morgens auf seine Scholle kam und seinen Arbeitstag nicht mit einer Flucht nach Sodom hinter den Büschen und der Mauer beenden sollte.
Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Ihre Zukunft noch ungewiss. Längst wächst um ganz Berlin eine neue und immer dicker werdende Mauer. Aus einem weiteren Golfplatz und einem noch größeren Shopping-Erlebnis-Gelände. Lichtenrade hat bisher nur ein paar neue Ein- und kleine Mehrfamilienhäuser dazubekommen, innerhalb der alten Grenze. Mein weites Feld ist noch unberührt. Morgens und abends in der Dämmerung ist die Luft klar und frisch. Der Bauer mäht vielleicht gerade über seinen Acker. Mücken plagen. Aber anders habe ich es nie gewollt.
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