piwik no script img

robin alexander über SchicksaleEin badischer Nestbauer in Sachsen

Thomas H. ist homosexuell, doch er liebt sein pietistisches Heimatdorf. Er leidet – und schreibt die Dorfchronik

Ein echter Gentleman leistet sich immer einen kleinen Spleen, hatte eine Freundin mal gesagt. Das galt fortan als ausreichende Erklärung für das wunderliche Verhalten von Thomas H. Sein Spleen steht in einer Ecke seiner Uni-nahen Leipziger Wohnung in Gestalt von neun mit Dokumenten und Manuskripten vollgestopften Umzugskartons und frisst nicht nur Platz, sondern auch Zeit. Thomas ist Dorfchronist. Er schreibt die 300-jährige Geschichte des 540 Kilometer entfernten Dorfes F., seinem Heimatort im Badischen.

Eine ernste, ehrenhafte Pflicht für einen historisch interessierten Rentner. Doch Thomas ist ein schmaler Mittzwanziger mit der großstadt-typischen Kurzhaarfrisur, die so gut einen frühen Ansatz zur Glatze verbirgt. Ein junger Mann, wie man sich heute junge Männer wünscht: ein bemühter Student der Politikwissenschaften, engagiert bei den Grünen, verbindlich bis zur konservativen Höflichkeit, besonders gegenüber Frauen. Vor lauter Beflissenheit geht er seiner Umgebung manchmal auf die Nerven.

Während seine Kommilitonen also Praktika bei großen Hamburger Zeitschriften machen, durch Südamerika trampen, nach China reisen und in der Uni grübeln, wie universell die westlichen Werte wirklich sind, durchforstet Thomas alte Zeitungen, wälzt badische Landkarten über die Migration hugenottischer Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und grübelt über calvinistisch-pietistische Traditionen.

Thomas leidet unter einer im akademischen Milieu heute seltenen Krankheit: Heimatliebe. Echte, große Heimatliebe, mit einem starken Zug ins Manische, wie sie jeder starken Liebe eigen ist, bei der zur Zuneigung heftige Angst vor Zurückweisung tritt. Warum bemüht sich einer, der Horizont genug hätte, die Ferne zu erobern, so sehr um sein kleines Zuhause? Weil er fürchtet, es werde ihm verloren gehen.

Im Frühjahr 2000, in einer schwachen Stunde, ist es so weit: Thomas hat schweren Liebeskummer und eilt in dieser hohen Not instinktiv heim. Am Küchentisch tröstet ihn die Mutter auch rührend. Bis Thomas nicht mehr kann, nicht mehr „den Horror“ aushält, „nicht ehrlich zu den eigenen Leuten sein zu können“. Bis Thomas berichtet, dass der geliebte Mensch, der ihn in Leipzig verließ, kein Mädchen, sondern ein Mann ist.

Die Eltern sind entsetzt. „Des derf koiner wisse“, sagt der Vater. Ausgerechnet jetzt, wo man gerade gebaut hat und deshalb nicht mehr wegziehen kann. „Verzähl des jo niemand. Hättsch uns des doch net g’sagt“, schluchzt die Mutter. Solche Reaktionen empfindet Thomas nicht einmal als nur negativ – immerhin sprechen sie über ihn. Einer seiner beiden Brüder wird nicht eingeweiht, ist die Familie allerdings stillschweigend übereingekommen. Schließlich ist Thomas Taufpate des Kindes dieses lieben Bruders.

Warum macht er sich nicht einfach davon, zu den Leuten, die ähnliche Geschichten erzählen können? Stellt in Leipzig-Connewitz, Berlin-Schöneberg oder in der Kölner Südstadt eine Regenbogen-Fahne auf seinen Balkon, erklärt die örtliche Homo-Szene zu seiner Familie und lässt das Dorf Dorf sein? Nein, „eine Flucht kommt für mich nicht in Frage“. Studieren im Osten, Flirts und Affären in der Großtstadt – das ja. Aber darauf folgt immer die Rückkehr ins Dorf und in die schmerzliche Auseinandersetzung. „Wie die Leute in meiner Heimat sehne ich mich nach geordneten Verhältnissen, nach Weitergabe dieser Werte und Lebensweisen.“ Das schließt für Thomas eben auch eine christliche Ehe mit Kindern ein. „Nur weil das für mich persönlich nicht funktioniert, bin ich noch lange nicht dagegen.“ Diese Widersprüche packt er in die kurze Formel: „Ich gehöre dazu und ich bin einverstanden damit – aber es ist nicht auszuhalten.“

Im Sommer bricht er zusammen: Magengeschwür, Psychopharmaka, Virusinfektion, eine Gürtelrose. Wochen im Krankenhaus. Thomas schreibt Freunden in Amsterdam eine Ansichtskarte mit Klinikmotiv: „Keine Grund zur Sorge: kein Aids, nur extreme Liebesauszehrung.“

Nach der Entlassung zieht er mit 27 Jahren wieder bei seinen Eltern ein. Er hat ein Freisemester genommen, um ausgerechnet zu Hause zu genesen. „Ich bin gerne gerne zu Hause. Und bei allem Stress mit mir freuen sich meine Eltern doch, dass ich noch einmal bei ihnen bin.“ Nesthäkchen kehrt heim, obwohl das Nest längst vom Ast gestürzt ist.

Ob Thomas je wirklich flügge wird? Drei neue Kisten mit Material hat er im Kofferraum, als er schließlich zu seinem Studium nach Leipzig zurückkehrt – ein Stück vom Nest. Er will endlich die Dorfchronik vollenden. Deren letzte Fassung ist von 1949. Autor: Oskar H., der Großvater von Thomas, lang schon verstorben. Auch wenn Thomas noch eine Menge Arbeit hat, bevor er auf der auf der letzten Seite angelangt ist, weiß er schon: Auch in der neuen Fassung, in seiner Chronik wird die Geschichte des pietistischen Dorfes F. im Badischen mit einem Gedicht seines Großvaters enden. Die Jamben sind etwas schief. Aber wenn Thomas die Verse vorliest, haben sie Rhythmus und Klang:

Die Heimat, die heilige Scholle

ist Paradies und Glück.

Und wäre sie Wüste und Hütte,

Dein Herz bringt Dich zurück.

Fragen zu Schicksalen?kolumne@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen