piwik no script img

Die Zeit und das Flimmern

Die Existenzphilosophie und Beethoven treffen die MTV-Generation, und Nam June Paik trifft seine Kinder: Die Kunsthalle Fridericanum in Kassel zeigt „Kunst, Provokation, Unterhaltung, Video“

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Ein Mädchen tanzt mit dem Tod. Der Wind bewegt ihr Kleid und das Tuch, das den Hintergrund des Ateliers verhängt. Sie liest, steht auf und geht, getragen von einem Klavierkonzert Beethovens, zu einer Schlinge. Doch kaum haben ihre Füße den Hocker unter ihr umgestoßen, ziehen sie ihn wieder heran, sie steigt ab, geht rückwärts zum Tisch, greift nach dem Buch. Man denkt sich, dass sie „Werther“ liest oder „Madame Bovary“. Der ersten Geste des Abschieds von der Welt, den man sich später nie mehr so bewegend ausmalt wie in der Pubertät, folgen im schwarzweißen Video der jungen estländischen Künstlerin Ene-Liis Semper weitere Suizidskizzen. Jede wird wieder zurückgenommen und ausgelöscht durch die Funktion „zurückspulen“. Die kleine Elegie, die so blass ist wie uraltes Zelluloid, heißt deshalb schlicht „FF/REW“.

Noch ein zweites Band der Kasseler Ausstellung „Looking at you“ erzählt in zehn Minuten von einem Selbstmord, diesmal eingeleitet mit Beethovens Pastorale. In „The Lake“ von Peter Land aus Dänemark schießt ein Jäger auf einem Waldsee ein Loch in sein Boot. Minutenlang verharrt die Kamera zu Vogelgezwitscher und Insektenbrummen auf dem sinkenden Kahn und dem Jägerhut, der zum Schluss auf der Wasseroberfläche treibt. Zu dieser tragikomischen Vermählung mit dem Wald sagt Peter Land: „In diesem Video ist der Blick auf die Unmöglichkeit gerichtet, sich die Welt ohne einen selbst darin vorzustellen.“

Haben wir nicht schon immer geahnt, dass Beethoven und Existenzphilosophie zu den wahren Bedürfnissen der MTV-Generation gehören? René Block, Direktor des Fridericanums Kassel, versucht mit seiner Ausstellung ein neues Publikum in einer film- und musikverliebten Generation zu finden. Schwungvoll redet er im Katalog von neuen Strategien: „Heute sind die Spieler auf den Tenniscourts, den Formel-1-Strecken oder in den Fußballarenen Dollar-Millionäre, ein großer Teil ihres Publikums hingegen ist arbeitslos. (. . .) Was nun die Kunstpraxis, speziell die Ausstellungspraxis betrifft, müssen wir noch einiges lernen, was uns der Sport und die Leute der Unterhaltungsindustrie an Effizienz vormachen. Das mag uns passen oder nicht. Warum sollen Kuratoren nicht für Bohnerwachs werben?“

Ganz einfach, denkt man sich, weil niemand ihm zum Beispiel Bohnerwachs abkaufen würde, eine neue Ausstellung hingegen immer. Block hat vor über drei Jahrzehnten die Fluxuskünstler als Galerist unterstützt und entdeckt heute ihre Strategien des Andockens in unterschiedlichen Kontexten wieder in den Arbeiten einer späteren Generation. „Looking at you“ zieht diesen Bogen durch einen großen Raum mit frühen Arbeiten von Nam June Paik, der schon im „Global Groove“ von 1973 einen Vorgriff auf die Zeit übte, „wenn Sie in der Lage sein werden, jeden TV-Sender der Welt zu empfangen“. Vor seinen Bildern lernt man, hinter jedem festen Körper einen unendlichen Raum zu vermuten, in den der Absturz unmittelbar bevorsteht.

Viele der jüngeren der 30 teilnehmenden Künstler hat Block erst kurzfristig auf der Manifesta in Ljubljana und der Biennale Venedig entdeckt. Von dort stammen zwei Beiträge aus Riga zur Musik der Zauberflöte, von der Nationaloper zur Feier des 800-jährigen Bestehens inszeniert. Der Theaterregisseur Viesturs Kairiss lässt den Chor singen in einem Wald, in dem Arme, Obdachlose und unbekannt Verstorbene aus Riga beerdigt werden, ein paar hundert jedes Jahr. Der Chor, in Helme und Schutzfolien gekleidet, verstärkt die Unwirklichkeit der Szenerie. Man denkt an Massengräber der Kriege oder die Opfer atomarer Katastrophen.

Auf seltsame Art schillern auch die Bilder von Serge Spitzer, in Rumänien geboren und heute in New York lebend, zwischen Kriegsschauplatz und Massenevent. Der Besucher bewegt sich zwischen zwei Leinwänden, die über und über mit Körpern bedeckt sind. Man hört zwar Geräusche ihrer Bewegungen, aber keine Stimmen. Sie stampfen in einer Suppe, sind bedeckt mit Blut oder Gemüse, man kann es nie genau erkennen. Zu keinem Ort und zu keiner Zeit passt diese Schlacht, die manchmal an den Strom der Körper erinnert, die in mittelalterlichen Gemälden aus ihren Gräbern auferstehen am Tag des jüngsten Gerichts, dann wieder an das Bad in der Menge der Love Parade. Eine beunruhigende Uneindeutigkeit von Lust und Schmerz.

Eindrücklich auch die Arbeiten, die die Begrenztheit des technischen Mediums mitausstellen. Die Verfügbarkeit von Informationen und die Speicherung von Daten erzeugen die Vorstellung einer allseitigen Greifbarkeit des Wissens. Doch dass die Lesbarkeit von Datenträgern oft sehr plötzlich beendet ist und sich die Geschwindigkeit der Aneignung nicht beliebig steigern lässt, beweist Claus Böhmler mit seinem „Record Achive on Videotape“ (1987). 184 Minuten lang wird auf dem Monitor Zeit sichtbar, wenn der Tonarm eines Plattenspielers die Rillen verschiedener Scheiben abtastet. Man kann 30 Minuten davor sitzen oder auch nur 2. „Das Medium Video in der Kunst ist für das Publikum eine Zumutung“, behauptet ein Text an der Wand, weil „es die Betrachterinnen der Verfügungsgewalt über ihre Zeit enteignet.“ Nicht zuletzt das „Stöhnen der Kunstkritik über zu viel Video überall“ hat René Block zu dieser Bestandsaufnahme bewogen. Doch wer sich durch sie bewegt, hat mehr von den kollektiven Phantasmen der Mediengesellschaft begriffen, als wer zu Hause zappt.

„Looking at you“, bis 16. 9., Kunsthalle Fridericanum, Kassel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen