: „Wir halten die israelischen Soldaten auf“
Die palästinensische Ortschaft Beit Dschala war zwei Tage von der israelischen Armee besetzt. Kämpfer schießen aus bewohnten Gebieten heraus
BEIT DSCHALA taz ■ „Nur bis zum Stadtrand“, meint der Taxifahrer auf die Frage, ob er nach Beit Dschala fährt. Drei Kilometer sind es vom Zentrum Bethlehems aus, wo von den jüngsten Unruhen im Nachbarort kaum etwas zu spüren ist und das Marktgeschehen seinen Lauf nimmt. Die Straßen in Beit Dschala hingegen sind fast menschenleer, abgesehen von einer Gruppe junger Männer in grünen Uniformen, Angehörigen der palästinensischen nationalen Sicherheitstruppen, die sich, auf dem Bürgersteig sitzend, ausruhen. Zwei mit hoher Geschwindigkeit durch die schmalen Gassen fahrende Minibusse schrecken die Polizisten nicht auf. Die Wagen halten, ungefähr zehn Männer springen heraus. Sie sind nicht uniformiert, tragen aber Gewehre und Patronengürtel. Fast alle haben außerdem ein Palästinensertuch um dem Kopf, um sich im Einsatz das Gesicht verdecken zu können.
Ein braun gebrannter Kämpfer mit dunklem Vollbart lässt sich kurz auf ein Gespräch ein. „Wir sind hier, um die Israelis daran zu hindern, unser Land zu besetzen“, sagt er. „Sie sollen abziehen, dann könnten wir sofort Frieden haben.“
Einen Tag und zwei Nächte schon ist Beit Dschala von israelischen Soldaten besetzt. Die Regierung in Jerusalem rechtfertigte die Invasion der Panzer mit dem erneuten Beschuss der jüdischen Siedlung Gilo, die zwischen dem Ort und Jerusalem liegt. In der Nacht zum Mittwoch drangen die Soldaten vorübergehend auf das Gelände der lutherischen Kirche vor und besetzten das dazugehörende Internat. Zwei Kämpfer der palästinensischen Tansim stehen unmittelbar neben der Kirche und zielen in Richtung auf ein höher gelegenen Haus, das die Soldaten noch besetzt halten. Der erste Schuss wird mit mehreren Maschinengewehrsalven beantwortet. Im Internat sind die Schüsse so laut, dass man sich kaum verständigen kann. Seit 24 Stunden gibt es weder Strom noch Wasser.
„Wenigstens sind die Soldaten wieder weg,“ sagt Pfarrer Jadallah Shihadeh, der sich über das Verhalten der Israelis noch immer nicht beruhigen kann. „Wir sind mitten im Umbau und haben teure Marmorplatten eingekauft. Die Soldaten haben sich auf den Balkon gestellt und eine nach der anderen runterfallen lassen. Aus reiner Zerstörungswut.“ Am frühen Morgen seien sie schließlich abgezogen. „Einer rief uns noch auf Arabisch zu: „Wir kommen wieder!‘ “
Dass es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern in Beit Dschala kommt, sei schade und überflüssig. „Unsere Stadtversammlung hatte Anfang des Jahres beschlossen, keine Schüsse mehr von Beit Dschala aus zuzulassen.“ Nach zweimontiger Feuerpause habe der Tansim jedoch wieder mit den Kämpfen angefangen, als Antwort auf die israelische Politik der Hinrichtungen von Rädelsführern. Die Kämpfer will er nicht für die Lage verantwortlich machen. „Sie waren anständig und haben, als die Soldaten von hier aus geschossen haben, nicht zurückgeschossen.“
Als es ein paar Minuten ruhig bleibt, zeigt der Pfarrer einen Schleichweg durch einen benachbarten Neubau und einen wilden Garten, um so die Straße zu vermeiden. Nur 500 kritische Meter sind zu überwinden. Aber dann sind doch wieder Schüsse aus unmittelbarer Nähe zu hören. Ein Mann winkt mir aus dem Fenster seiner Wohnung zu. „Schnell!“, ruft er und hält mir die Tür auf. „Es geht seit zwei Tagen so“, sagt Samir und setzt sich zu seiner Frau Wafa und drei Töchtern ins Wohnzimmer. Über dem Fernseher hängt ein Bild von einem blutüberströmten Jesus am Kreuz. Im Nebenzimmer steht eine elektrische Orgel. Samir macht in der katholischen Kirche Musik.
Von der Straße sind schnelle Schritte und Stimmen zu hören. Es sind zwei Tansim-Männer, die nach Benzin für Molotowcocktails suchen. Sie brechen den Tank von Samirs Bruder mit Gewalt auf. „Das ist nicht okay, aber was soll’s?“, kommentiert Samir. Deutlichere Kritik an den Kämpfern äußert er nicht. „Sie sind Helden und schützen uns vor den Israelis.“ Dass er seit zwei Tagen nicht aus dem Haus kann, nimmt er in Kauf.
Gut zwei Stunden dauern die Feuergefechte. Dann wird es ruhig. Die Mädchen gehen aus dem Haus und zeigen aufgeregt auf sechs Einschüsse. Die Famile beschließt, in das Haus eines Verwandten umzuziehen. Die Nachbarn von gegenüber haben das Gleiche vor. Sie wollen nach Bethlehem. Erst am Vortag ist ihr neues Auto von einer israelischen Rakete getroffen und völlig zerstört worden. Mit Wiedergutmachung brauchen sie nicht zu rechnen. Warum die Tansim von bewohnten Gegenden aus agieren? „Ja, das genau ist das Problem“, sagt die Nachbarin. „Das ist das Problem.“
In den Nachrichten ist von einem Waffenstillstand die Rede. Israels Außenminister Schimon Peres und Palästinenserpräsident Jassir Arafat haben sich im Gegenzug für den Abzug der Soldaten aus Beit Dschala auf eine Feuerpause geeinigt. Die Schießerei dauert dennoch bis zum Abend an. Erst am frühen Donnerstagmorgen zieht sich die israelische Armee wieder zurück. Vorläufig. Wenn geschossen wird, „kommen wir wieder“.
SUSANNE KNAUL
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