: Ich erkenne die Ohnmacht an
■ Ivan Illich, Weltbürger und Kritiker der gedankenlosen Selbstverständlichkeiten der Moderne, wird der modernen Krebs-Medizin zum Trotz heute 75 Jahre alt
Ivan Illich wird 75 heute. Das hätte eigentlich gar nicht sein dürfen, sagt er selber, wenn die Ärzte 1983 Recht gehabt hätten, die ihm gerade noch fünf Jahre gaben, und das nur unter der Bedingung, dass er sich ihrer radikalen Krebs-Therapie unterwerfen würde.
Aber Illich hat schon 1976 in einem Buch sein Verhältnis zur Medizin offengelegt (Die Nemesis der Medizin). Die Medizin ist für ihn nur eine der Institutionen, die den Menschen von der Technik abhängig machen. Seit 15 Jahren nimmt Illich nun Opium, wohl dosiert, und hat auch keine Scheu, dies auch in der taz öffentlich zu sagen.
Illich, der in Florenz und Rom studierte, zum Priester geweiht wurde, in Mexiko aus der Kirche rausflog, dann Professor in Princeton und Pennsylvania war, ist ein „gemeiner“ Denker. Gemein ist für ihn das, was im ursprünglichen Wortsinn „allgemein“ ist.
Dass die Fortschrittsmacher der Moderne das „Gemeine“ als niedrig empfunden haben, haben sie auch sprachpolitisch durchsetzen können. Die Enteignung ursprünglicher „gemeiner“ Fähigkeiten zum Nutzen lukrativer mittelständischer Berufe führt dazu, dass der fortschrittliche Mensch abhängig wird von deren Prothesen – das ist der rote Faden in Illichs intelligenter Polemik gegen die gedankenlosen „Selbstverständlichkeiten der Moderne“, wie Schule, Fortschritt ...
Seit 1992 hat der 1926 in Wien geborene Illich seinen Lebensmittelpunkt in Bremen. Hier hat er damals eine gemeine Idee verfolgt: Mitten auf dem Rembertikreisel, diesem von 40.000 Blechkarossen umkreisten Reservat des Wildwuchses, könnte eine „Freie Universität Remberti“ entstehen. Aus den umliegenden Straßen kamen damals Jung und Alt, um auf Wolldecken und Klappstühlen mit dem Freundeskreis des nach Bremen gezogenen Sozialphilosophen über die Symbolhaftigkeit dieser Stadtplanungsruine und andere Modernisierungs-Ruinen zu reden.
Für Illich war das Stück Niemandsland eine intellektuelle Herausforderung. Seine Philosophie: „Zementmauern kann man nur mit Wurzeln sprengen.“ In den 60er Jahren hatte der Fortschrittswahn hier ein Wohnquartier niedergerissen. Illich hätte hier gern ein „Sindbad“, ein Café für Geschichtenerzähler, errichtet.
Als der weltweit renommierte Philosoph zum 20-jährigen Bestehen der Bremer Universität zur Festrede geladen wurde, da brüskierte er die Drittmittel-Jäger mit seinem Vortrag: Wenn Wissenschaft nur das „Austüfteln von Machbarem“ sei, käuflich wie die „Forschung des Bezahlbaren“, dann habe sie den Anspruch auf Ansehen und Vertrauen verloren, hielt Illich der Festgemeinde in der Oberen Rathaushalle vor. Er empfahl der Universität „Bildung“ und „Askese“ als Weg, die eigene Sinnlichkeit und Vorstellungskraft zu verfeinern.
Wie man ahnt – vergeblich. Genauso vergeblich hatte Illich schon 1991 mit Henning Scherf (SPD) in der Rathaushalle über die Institutionalisierung von Bildung geredet. „So wenig Schule wie möglich“ ist Illichs These (Entschulung der Gesellschaft), denn Schüler würden dort nur geschult, Verfahren und Inhalte miteinander zu verwechseln. Kritik an den Gedankenlosigkeiten der Moderne ist nicht erfolgreich, im Gegenteil: Sie reproduziert immer wieder eine Lage der Ohnmacht. Illich weiß das.
„Es gibt nur eine Antwort auf das moderne Medizinsystem: „Nein, Danke!“ hat Illich 1990 einmal in einem Interview mit der taz erklärt. „Ich anerkenne meine Ohnmacht, erlebe sie tief. Das kann man nicht alleine tun – dafür ist Freundschaft, die alte 'philia', Grundlage – ohne die geht es nicht. Aber Verzicht ist möglich. Verzicht, der bewusst, kritisch, diszipliniert eingeübt wird und für den es einmal einen Namen gab: Askese.“ Damit meint er nicht das „Nein danke zu Wein, Weib, Gesang und Wohlgerüchen“, sondern „ein 'Danke nein' zu den Selbstverständlichkeiten, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist.“
Klaus Wolschner
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