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Hinter Spielbergs Märchenmaske

Stanley Kubrick hat Filme gedreht, die, jeder für sich, in Bereiche des audiovisuellen Denkens aufbrachen, in die noch niemand bis dahin vorgedrungen war. Er hat in seinen großen Bewegungsbildern (1) immer wieder die Frage nach dem gestellt, was mit dem Menschen nach seinen Krisen geschehen kann: nach der Krise der Aufklärung, nach der Krise der Zivilisation, der Krise der Wahrheit, der der Liebe, nach der orbitalen, der psychologischen, der philosophischen Krise. Wo immer man in Stanley Kubricks Filmen hingelangen mochte, „die Mitte“ jedenfalls hatte man verlassen.

Steven Spielberg, das gilt als abgemacht, hat immer nur Filme für diese Mitte gemacht (2). Mal, um ihnen lustige Weltuntergänge und familiensüchtige Menschen auf märchenbunte Art zu präsentieren, mal, um sie mehr oder weniger pädagogisch an die Wunden und Narben ihrer Geschichte zu erinnern. Nur wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass es auch hier vor allem um die Krise, um das geht, was eigentlich nicht auszuhalten ist, auch und schon gar nicht in der Mitte der Gesellschaft: Steven Spielberg hat nie von der Kindheit erzählt. Sondern immer nur von ihrem Ende. Er hat nie von der Familie erzählt. Sondern immer nur von ihrem Zerfall. Er hat nie von Außerirdischen erzählt, sondern immer nur von der Sehnsucht gequälter amerikanischer Seelen nach ihnen. Er hat nie von Geschichte erzählt, sondern immer nur von der Notwendigkeit, sie zu erzählen. Und was das Märchen anbelangt, das im Kern aller seiner Filme liegt, Peter Pan, The Wizard of Oz, Hänsel und Gretel und Pinocchio, so hat er es immer nach rückwärts erzählt, auf seinen Kern hin: den Abschied.

Stanley Kubrick hat in seinen Filmen gefragt, was danach kommt. Was geschieht mit dem Menschen, der in der Hölle war? Steven Spielberg stellt in seinen Filmen, den „trivialen“ wie den „ernsten“, eine andere Frage: Was kann man jetzt tun, mittendrin in der Hölle, die sich Leben nennt, um ein Mensch zu bleiben, mehr noch: um einer zu werden?

„Zwei Unschuldige sind am Ende ihres Weges angekommen, und eine traurigere Welt nimmt ihren Anfang“ – so hat er das Ende von „Empire of the Sun“ beschrieben. Aber man könnte mehr oder weniger fast alle seine Filme auf diese Formel bringen, sogar „Schindlers Liste“. Und nun ist es wohl auch das, was der modernen Pinocchio-Variante in „A. I.“ zugrunde liegt. Dass die Unschuldigen Maschinen sind und die Schuldigen Menschen, das verwundert uns schon lange nicht mehr. Aber diese Geschichte von der Maschine, die unbedingt ein Mensch werden will und dabei sozusagen aus Versehen zeigt, wie brutal der Mensch als soziale Maschine funktioniert, liegt doch ein bisschen quer zu der ausgeprägten Mythologie der künstlichen Menschen, die im Kino unserer Tage so elementar ist, wie es zu anderen Zeiten der einsame Cowboy war.

Den Anlass zum Plot von „A. I.“ gab „Supertoys Last All Summer“, eine Kurzgeschichte von Brian W. Aldiss, die erstmals 1969 in Harper’s Bazaar erschien und lange in Stanley Kubricks Verfilmungsrechte-Schublade lag (3). Die Geschichte scheint auf den ersten Blick furchtbar einfach zu sein: Die Welt ist von der Klimakatastrophe ruiniert, die großen Hafenstädte untergegangen, der Rest der Menschheit auf rigide Selbstbegrenzung angewiesen, was, mindestens, die Einkind-Familie geboten sein lässt (bei Aldiss gibt es da noch eine Lotterie zum Kinderkriegen). Ihre alten und neuen Defizite überbrücken die Menschen („Orgas“ genannt) mithilfe immer perfekterer, immer spezialisierterer, immer menschenähnlicherer Roboter (den „Mechas“).

Der Sohn des Ehepaars Swinton liegt im Koma; viel Hoffnung können die Ärzte nicht machen. Die Firma Cybertronics macht ein sensationelles Angebot: Henry (Sam Robards) und Monica (Frances O’Connor) sollen den Roboter-Prototypen David (Haley Joel Osment) als mehr denn ein „Ersatzkind“ aufnehmen – eine Maschine, die so weit entwickelt ist, dass sie wirkliche Gefühle entwickeln kann. David wird von einem „Liebes-Programm“ zu seiner Mutter bestimmt. Ein Programm, das irreversibel wirkt, wenn es einmal durch eine bestimmte Wortfolge aktiviert wird. Und Monica, von ihren mütterlichen Gefühlen überwältigt, spricht die magischen Worte aus. Der erste Schritt des maschinellen Pinocchio ins Leben ist getan. Und für diesen Seelen-Entwurf gibt es jetzt kein zurück mehr.

Doch plötzlich wird der leibliche Sohn wieder gesund, und eigentlich soll David, nachdem die Rivalität der beiden ungleichen Kinder bedrohliche Situationen hervorgebracht hat, nun „entsorgt“, das heißt verschrottet, das heißt getötet werden. Das bringt Monica denn doch nicht fertig. Sie setzt David in einem Wald aus, in dem verstoßene und geflohene „Mechas“ Zuflucht gefunden haben. Sie werden dort, wenn sie sich verzweifelt auf die Schrotthaufen stürzen, um sich mit Ersatzteilen für ihr defektes Dasein zu versorgen, von menschlichen Jägern (den Wölfen im Mecha-Märchenland) aufgespürt und gefangen. Anschließend werden sie in einer Arena vor einem sadistischen Publikum zerstört.

Nur knapp gelingt David die Flucht, weil eine Maschine, die auf Liebe programmiert ist, auch eine andere Fähigkeit hat: Sie kann Mitleid erregen. David findet in dem männlichen Sexroboter Gigolo Joe (Jude Law) einen Freund. Gigolo Joe begleitet ihn auf seiner Suche nach der blauen Fee aus der Pinocchio-Legende, die ihm seine „Mutter“ vorgelesen hat. Die Fee soll aus ihm endlich den richtigen Jungen machen, den seine Mutter wahrhaft lieben kann. Die Suche führt David zunächst zu seinem Schöpfer, Professor Hobby (William Hurt), und entsetzt muss David feststellen, dass er keineswegs einzigartig bleiben, sondern endlos repliziert werden soll. Kann ein Wesen, das nicht einzigartig ist, überhaupt auf Liebe hoffen, und danach auf das Mensch-Werden?

Der Augenblick, in dem David in den Sintflut-Resten des Eilands Manhattan einem Abbild von sich, dann der beginnenden Serienproduktion gegenüber steht, ist der erschreckendste, der finsterste und kubrickianischste des Films. Hoffnung im traditionellen Sinn gibt es da weder für die gepeinigte Seele der kleinen Maschine noch für den Menschen, der sich mit dieser zweiten Schöpfung selbst ad absurdum geführt hat. David stürzt sich in die Tiefen des Ozeans und findet dort doch noch die blaue Fee. Es ist eine kitschige Statue aus dem untergegangenen Vergnügungspark von Coney Island. Und die kann seine tausendfach wiederholte Bitte, einen richtigen Menschenjungen aus ihm zu machen, nicht erhören.

Nach dem philosophischen Schlusspunkt wäre dies nun ein reichlich zynisches Ende. Spielberg fügt deshalb einen Epilog an, komplett mit freundlichen Außerirdischen und einem schönen Trost: Für einen Tag darf David das richtige Kind seiner Mutter sein. Und danach ist die Geschichte der Menschheit zu Ende.

Wie in E. T. geht es um das Abschiednehmen, von der Kindheit und damit von der Hoffnung, etwas anderes als ein Unmensch zu werden. Und wie in „Der Soldat Ryan“ geht es um die Schilderung eines unerträglichen Zustandes der Welt und dann um die Fabel, die sie nur teilweise erträglicher macht. Man muss sich etwas erzählen, man muss sich Bilder machen, um das auszuhalten, aber auch das führt nicht mehr zu einer vollständigen Täuschung.

Stanley Kubrick war ein grimmiger Optimist, Steven Spielberg ist ein sentimentaler Pessimist. Stanley Kubrick lässt seine Menschen weiterleben, wenn auch auf eine klarere und einsamere Weise. Steven Spielberg verurteilt seine Menschen zum Tod, aber nie, ohne ihnen einen letzten Trost zu spenden. Welche der beiden Möglichkeiten furchtbarer und welche boshafter ist, lässt sich so ohne weiteres nicht sagen. Nur dass es eine Frage ist, die tief ins Wesen der Kinobilder selber reicht. Wenn man sich an einem klassischen Hollywood-Kino oder den trivialen Nachahmungen eines solchen in unseren Tagen orientiert, könnte man vermutlich leicht kritisieren, wie dieser Film auseinander fällt in die Kubrick-Aspekte und die Spielberg-Komponenten, uneinheitlich in Form und Inhalt, wie man so sagt. Eisiges, konsequentes Bilder-Denken auf der einen Seite, tröstendes Märchen auf der anderen.

Den größten Verrat an seinem Vorbild begeht Spielberg vermutlich aber nicht in seinen Hinzufügungen und Weglassungen gegenüber Kubricks immerhin schon ziemlich ausgearbeitetem Drehbuchentwurf. Schließlich muss er die Geschichte ja in seine eigene Erzählung hinüberholen, und die hat ihre eigenen Regeln, ihre eigenen Mythen und natürlich auch ihre eigenen Obsessionen, vom lebendigen Spielzeug bis zu den gütigen Aliens. Spielbergs größter Verrat liegt wohl eher darin, dass er einmal mehr seine durchaus intelligenten Bilder mit einer furchtbaren Musiksauce bedecken lässt. Die Musik macht den Film klüger bei Kubrick, bei Spielberg macht sie ihn dümmer. Seine Angst vor dem Schweigen ist so groß, dass sich sogar schon sein Hauskomponist, der Neobombastiker John Williams, einmal darüber beschwert hat, dass der Regisseur keine Pausen zulässt. Als müsste uns Spielberg immer noch in der Musik führen und trösten und besoffen machen. Die Musik in den Spielberg-Filmen macht uns etwas vor. Als gäbe es da noch so etwas wie eine Ganzheit, eine eindeutige Seele einer Filmerzählung.

In Wahrheit ist Steven Spielbergs Kino schon immer eines der Brüche und Widersprüche gewesen, ein Kino, das an das Erzählen eigentlich so wenig mehr glaubt wie an die Sinn stiftende Wirkung der Montage. In beinahe jedem Spielberg-Film gibt es einen solchen großen und sichtbaren Bruch, und sei es der zwischen der blutig-realistischen Dokumentation und der moralischen Fabel in „Der Soldat Ryan“. In den „Indiana Jones“- und den „Jurassic Park“-Filmen kümmert sich Spielberg schon lange nicht mehr um eine logische Geschichte, er zeigt stattdessen möglichst affekthaft eine Scherbenwelt. Seine Drehbücher würde man in jedem Script-Seminar um die Ohren geschlagen bekommen. Die Filme sind dann aber gerade deswegen trotzdem großartig: Man kann zusehen, wie sie sich von etwas befreien, vom Fünfaktschema des klassischen Plots bis zur Raum-Zeit-Logik des Schnitts.

Steven Spielberg hat mindestens so viel von Hitchcock gelernt wie von Disney. Und diese beiden Vor-Bilder machen schon klar, dass in seinen Filmen immer um den Bruch herum erzählt werden muss: Einerseits mit einem fast blinden Glauben an das Bild, mit dem Glauben daran, dass die Welt einigermaßen auszuhalten ist, solange man sie dazu zwingen kann, sichtbar zu werden. Andererseits im vollen Bewusstsein, dass zwei Bilder keine neue Einheit, sondern nur einen neuen Widerspruch ergeben.

Steven Spielberg ist viel moderner, viel radikaler, als es seine Themen und seine Absichten vermuten lassen. Aber im Gegensatz zu Stanley Kubrick hat er das nicht zum Programm gemacht, seine Filme sind immer maskiert. In „A. I.“ bricht das alles besonders heftig auf, irgendwie klappt hier die Maskierung nicht mehr.

Was also den Markt anbelangt, hat Steven Spielberg einen Film gedreht, der seinen Fans viel zu düster und gedacht ist und der Kubrick-Gemeinde zu märchenhaft und zu unentschlossen. Als hätten sich hier die Verhältnisse zwischen dem verborgenen depressiven Kern der Spielberg-Filme und ihrer glänzenden Oberfläche einfach umgedreht.

Aber gerade dieses Zerbrechen der Erzählung, die erbarmungslose Konsequenz, mit der „A. I.“ der Frage nachgeht, was eigentlich einen Menschen ausmacht, und die absolut kitschmächtige Zärtlichkeit der sehnenden und sterbenden Maschine gegenüber, macht die Wahrhaftigkeit des Unternehmens aus. Im Kino kann man nicht die Wahrheit sagen. Man kann nur auf immer ehrlichere Weise lügen.

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