: Macht und Identität
Von einer dynamischen Theorie der menschlichen Psyche zum verordneten bleiernen Schlaf: Warum die Psychoanalyse in der DDR chancenlos war und was daraus heute zu lernen ist
von CHRISTIAN SCHNEIDER
„Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen“, sagte Freud 1910 über die zukünftigen Chancen der Psychoanalyse. Aber, beeilte er sich hinzuzufügen, „das Intellektuelle ist doch auch eine Macht“, die sich – man fasse sich nur in Geduld! – letztlich durchsetzen werde. Schon bald darauf sah es für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte so aus, als sei allzu viel Geduld gar nicht mehr nötig: Die Psychoanalyse besaß plötzlich mehr Autorität, als selbst Freud ihr zugetraut hätte. Zu Beginn des sowjetischen Experiments gab es einen heftigen Flirt zwischen ihr und Teilen der bolschewistischen Staatsmacht.
Um den „neuen Menschen“ zu schaffen, bedurfte es nämlich nach Auffassung wichtiger Köpfe der kommunistischen Partei, allen voran Leo Trotzkis, mehr als nur der äußeren Umgestaltung der Gesellschaft. Für ihn stand ebenso die Notwendigkeit einer „inneren Reinigung“ des Menschen und eines wissenschaftlich angeleiteten Aufbaus neuer Persönlichkeitsstrukturen auf der Tagesordnung. Beides erhoffte er vom systematischen Einsatz der Psychoanalyse. Das Anfang der Zwanzigerjahre gegründete Kinderheim-Laboratorium „Internationale Solidarität“, in dem die Kinder hoch gestellter Persönlichkeiten, darunter Stalins Sohn Wassili, nach den neuesten psychoanalytischen Erkenntnissen erzogen wurden, ist das herausragende Beispiel für die zeitweilige Illusion einer glücklichen Liaison zwischen Bolschewismus und Freudianismus. Sie währte, nicht zuletzt deshalb, weil sie so eng mit dem Namen ihres Mentors verknüpft war, nur kurz. Mit Trotzkis Fall war letztlich auch das Schicksal der Psychoanalyse in der Sowjetunion besiegelt.
Bereits 1925 begann eine Serie parteioffizieller Verdikte gegen sie, nach Trotzkis Ausschluss aus der Partei 1927 war das Projekt faktisch beendet. 1936 bezeichnete Stalin die Psychoanalyse als ein unwissenschaftliches, idealistisches Konzept. Zu diesem Zeitpunkt hatte ein Großteil der Wissenschaftler, die sich zunächst noch für die Psychoanalyse stark gemacht oder, wie Alexander Luria, für ein Zusammengehen von Freud und Pawlow plädiert hatten, bereits die Seiten gewechselt. Ab Mitte der Zwanzigerjahre war „man“ Pawlowianer. 1950 erklärte Stalin Pawlows Lehre, die, passend zum „Dialektischen Materialismus“, das Seelenleben auf die materielle Tätigkeit in den Nervenbahnen reduzierte, zur alleinigen Grundlage der sowjetischen Psychologie.
Im selben Jahr forderte die SED, folgsam wie immer, auf ihrem 3. Parteitag, die „Errungenschaften der Sowjetwissenschaft“ zur Richtschnur für alle Disziplinen zu machen. Eine große Pawlow-Tagung wurde vorbereitet, die schließlich im Januar 1953 in Leipzig stattfand und die DDR-Psychologie endgültig auf Kurs brachte. Die Psychoanalyse, so resümiert die Berliner Ärztin und Psychotherapeutin Heike Bernhardt, eine profunde Kennerin dieser Entwicklung, „wurde 1953 in der DDR vollständig zerstört“. Offiziell verboten hingegen wurde sie nie: Sie war, wie Kurt Höck, einer der obersten Repräsentanten des DDR-Gesundheitssystems lakonisch bemerkte, „nur einfach nicht opportun“.
Wer die Abhängigkeit der DDR vom großen sozialistischen Bruder kennt, wird nicht darüber erstaunt sein, dass sich der Sieg Pawlows über Freud in der DDR wiederholte. Doch es bleiben Fragen: Was ist aus denen geworden, die sich ursprünglich an Freud orientiert hatten? Woraus erklärt sich die Chancenlosigkeit des Projekts, Marx und Freud zusammenzubringen, das in Deutschland schon zur Weimarer Zeit seine eigene Geschichte hatte?
Schließlich gab es in der entstehenden DDR eine Reihe von Psychoanalytikern, die zugleich überzeugte Kommunisten waren. Einer von ihnen war der in London zum Psychoanalytiker ausgebildete gebürtige Wiener Walter Hollitscher, der sich schon als Dreizehnjähriger der kommunistischen Jugendorganisation angeschlossen hatte. In seinem 1951 im Aufbau-Verlag erschienenem Buch „. . . wissenschaftlich betrachtet . . .“ bescheinigt er Freud zwar Schwächen in der „wissenschaftlichen Weltanschauung“, verteidigt aber dessen Neurosenlehre und den Beitrag der Psychoanalyse zur Anthropologie.
Kein Geringerer als der spätere Chefdissident der DDR gab in seiner Kritik des Buchs die künftige Linie vor: „Die Psychoanalyse“, so Robert Havemann, „ist eine antihumanistische, barbarische Ideologie, denn sie macht die tierischen Triebe zur Grundlage der menschlichen Psychologie und verleugnet die Beherrschung des Tierischen in uns durch die Kraft des menschlichen Bewusstseins“. Sie sei als Teil der „barbarischen Ideologie des Imperialismus“ reaktionär, unwissenschaftlich und mystisch.
Kaum anderthalb Jahre später hält der so gemaßregelte Hollitscher auf besagter Pawlow-Tagung einen der Hauptvorträge und begründet den „unversöhnlichen Gegensatz“ der Theorien Pawlows und Freuds mit den „antihumanen“ Zügen von Freuds Lehre. Diese sei nichts anderes als „eine pseudowissenschaftliche Ideologie, die dem imperialistischen Stadium der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“ entspreche. Das von Havemann vorgegebene Argumentationsmuster hatte gegriffen. Neu an ihm ist, dass nicht mehr „Idealismus“ und „Unwissenschaftlichkeit“ im Zentrum stehen. Der Psychoanalyse werden nun ganz direkt dieselben Attribute zugeordnet wie dem Imperialismus.
Sie, die ursprünglich von vielen Kommunisten als logische humanistische Verbündete im Kampf gegen den Faschismus gesehen wurde, gerät in der Phase des Kalten Kriegs auf die Seite der Reaktion. Ihre „objektiv antihumanistische Rolle“ (Alfred Katzenstein) wird in denselben Zügen entdeckt, die dem dekadenten System des Westens zugeschrieben werden: in der „Überbetonung des Sexuellen“, dem „biologistischen Individualismus“ und, vor allem, der „führenden Rolle des Unbewussten“ (Kurt Höck).
Dieses in den folgenden Jahrzehnten mechanisch reproduzierte Kritikschema wurde auf jener legendären Pawlow-Tagung grundlegend ausgearbeitet. Mit Hilfe zweier weiterer Psychoanalytiker, die in Leipzig mit fliegenden Fahnen von Freud zu Pawlow wechselten: Alexander Mette, der später Karriere als ZK-Mitglied und hoher Funktionär im Gesundheitswesen machte, und Dietfried Müller-Hegemann, der zum Vorreiter der „Pawlowschen Schlaftherapie“ wurde. Ein Vorgang mit Symbolcharakter. Was könnte besser den Wandel vom sozialistischen Traum zur stalinistischen Realität illustrieren als der Wechsel von einer dynamischen Theorie der menschlichen Psyche zum verordneten bleiernen Schlaf der Synapsen?
Angesichts solcher Zeugnisse der Anpassungsbereitschaft stellt sich die Frage, aus welchen Gründen die Psychoanalyse den Kommunisten so schnell zum feindlichen wissenschaftlichen Konzept wurde, auch in der komplementären Perspektive: Wie konnte die Identifikation mit der Psychoanalyse von ihren Vertretern so rasch und restlos aufgegeben werden? Denn die Psychoanalyse verfügt, darin dem Marxismus durchaus ähnlich und im krassen Unterschied zu konkurrierenden psychologischen Schulen, nicht nur über ein „starkes“ Menschenbild, sondern auch über eine hohe Identität stiftende Qualität.
Keine zweite wissenschaftliche Gemeinschaft erzeugt ähnlich starke Phänomene der Binnenkohärenz und des Kampfs um Orthodoxie und Abweichung wie die der Freudianer. Wie also konnten Psychoanalytiker, die sich zugleich als Antifaschisten und Kommunisten verstanden und Freud noch 1949 der sowjetischen Orthodoxie zum Trotz als „materialistischen“ und „dialektischen“ Theoretiker (Müller-Hegemann) bezeichnet hatten, in kürzester Frist ihren wissenschaftlichen Überzeugungen abschwören? Heike Bernhardt sieht das Hauptmotiv dafür nicht im Opportunismus, sondern in einem grundlegenden Konflikt zwischen ihren verschiedenen Identitäten – als Kommunisten einerseits und als Psychoanalytiker andererseits: „Als die Ideologie das Abschwören von der Psychoanalyse forderte, war es kein großer Schritt mehr, da die parteipolitische Identität schon lange eine höhere Wertigkeit als die psychoanalytische Identität hatte.“
Alfred Katzenstein, langjähriger Vorsitzender der DDR-Psychotherapiegesellschaft, der am Menninger-Institut in Topeka, USA, ausgebildet worden war, scheint ihr Recht zu geben: „Emotional am stärksten gebunden fühlte ich mich aber an die Partei. Ich war damals jederzeit bereit, jede Weisung ohne Zögern auszuführen.“
Stimmt Bernhardts Vermutung, so wäre das Grund genug, erneut über das Verhältnis von Identifikation und Denkverbot, von Glauben und Wissen, Macht und Identität in der Psychoanalyse nachzudenken. Und zwar nicht nur aus wissenschaftshistorischen, sondern aus höchst aktuellen wissenschaftspolitischen Gründen. Schließlich ist seit dem Mauerfall der Versuch, Freud im Osten zu repatriieren, eines der großen und wichtigen Projekte der deutschsprachigen Psychoanalyse.
In einer durchaus komplexen Situation. Während der Einfluss der Psychoanalyse in nahezu allen westlichen Ländern spürbar zurückgeht – das so genannte Freud bashing ist in den USA fast zur kulturellen Trendsportart avanciert –, bietet sich der Osten als „Zuwachsgebiet“ an. Hier gibt es nicht nur einen Mangel an qualifizierter Psychotherapie, sondern auch eine große wissenschaftliche Neugier gegenüber der mehr als ein halbes Jahrhundert vorenthaltenen Psychoanalyse.
Im derzeit laufenden Prozess des Wissenstransfers von West nach Ost taucht die Frage der Identität überall dort auf, wo früher erworbenes Wissen plötzlich nichts mehr gilt. Hier werden alte Identifizierungen zwangsläufig entwertet und neue manchmal – aus bestem missionarischem Eifer – nachgerade aufgezwungen. Man kann sich ausmalen, was das im Feld therapeutischen Handelns bedeutet.
Identitäten sind immer das Resultat von Identifikationen. So hat Freud seinen theoretischen Nonkonformismus stets mit der Tatsache in Verbindung gebracht, als Jude darin geübt zu sein, einer kompakten Majorität die Stirn zu bieten. Er hat sich zeitlebens bemüht, etwas von diesem Widerspruchsgeist in die Organisation der Psychoanalyse einzubeziehen – und ist damit letztlich gescheitert. Für ihn war die Identifikation mit seiner Lehre eine komplexe Ich-Leistung: rationale Entscheidung und affektive Bindung zugleich.
Daran hat sich, so scheint es, im Zuge der Institutionalisierung der Psychoanalyse einiges geändert. Nicht wenige ihrer Anhänger behandeln seither „psychoanalytische Identität“ wie eine Gewissensnorm. Überich-geleitete Identifikationen sind freilich, aufgrund der intimen Bindung der Überichs an archaische Machtpositionen, in einem entscheidenden Punkt brüchig: Bietet sich eine stärkere Macht an als jene, für die man ursprünglich Partei nahm, so ist es um die alte Identität schnell geschehen.
Ebendies scheint beim Seitenwechsel der Repräsentanten der Psychoanalyse in der frühen DDR eine Rolle gespielt zu haben: Die Bindung an die omnipotente Partei hat ihre psychoanalytische Identität mit erschreckender Leichtigkeit hinwegfegen können. Es könnte hilfreich sein, dies beim Prozess der Wiederansiedlung der Psychoanalyse in Ostdeutschland wahr- und ernst zu nehmen. Denn auch hier geht es – mit veränderten Vorzeichen – um das Aufeinandertreffen alter Identifizierungen mit Macht. Identitäten lassen sich nicht verordnen. Und wenn doch, sollte man sich vor ihnen hüten.
Heike Bernhardt, Regine Lockot: „Mit ohne Freud“. Psychosozialverlag, Gießen, 69 MarkCHRISTIAN SCHNEIDER, 50, ist Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main
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