: Sommer der Bolschewiki
Wenn hinter Lenin die rote Sonne im Meer versinkt: ein Revolutionär, Krupp und Capri
Nach Capri schifft ein, wer im neuen Prada-Flagstore einkaufen oder eine der vielen 1.000-Dollar-Blicke der Insel genießen will. Da steht man dann und glotzt aufs Meer, links die von einem gewieften Baumeister so Fuji-freundlich arrangierten Faraglioni-Brocken, rechts ein kleiner Felssporn, auf dem, ja wirklich, die Sirenen singen. Benebelt von Sang und Sonne wendet man sich ab, um nicht verspeist zu werden von den Seelenvögeln und weil gleich der Traghetto ablegt zurück nach Neapel; da taucht im Augenwinkel etwas auf, ein überdimensionaler steinerner Zahnstocher oder so, am oberen Ende der Via Krupp, etwas verhangen von Oleander. Man schaut genauer hin und entdeckt eine Stele mit einer Inschrift und einem Bildnis, das aussieht wie ein Konterfei Lenins. Haha, Genosse Uljanow im Oleanderschatten . . . Doch kein Zweifel: Das ist Lenin. Auf Capri. In Krupps Garten.
Großkapitalisten wie die Krupps und Italiens exklusives Eiland, das geht schon zusammen. Als Friedrich Alfred Krupp, ein Enkel des Unternehmensgründers, Ende des vorvorigen Jahrhunderts nach Capri kam, um sein Coming-out zu zelebrieren, bewies er gleich, wessen Spross er war, und ließ, weil sein Haus keinen Wasserzugang hatte, kurzerhand einen spektakulären Serpentinenweg in den Hang graben – die Via Krupp, ein bisschen spleenig, ein bisschen monumental. Echt Capri eben und heute auf der Fuji-Skala unmittelbar hinter den berühmten Felsbrocken rangierend.
Und Lenin? Ihn trieb seine eigene Odyssee hier an Land. Genau wie Odysseus auf seiner Fahrt führte der geächtete Berufsrevolutionär im Exil durchaus nicht das Leben eines gehetzten Karnickels. Polizeilich nur lässig überwacht, brütet er über terroristischen Revolutionsplänen, konspiriert eifrig im Untergrund und bewegt sich dabei frei in den Zentren der bürgerlichen Gesellschaft. Zwischen 1900 und 1917 trifft man ihn in München, Genf, Paris, London, in der Bretagne, in Nizza und eben auf Capri, wo Maxim Gorki eine Art Sommercamp für junge Bolschewiki unterhält. Die beiden spielen Schach unter Feigenbäumen und diskutieren die Machtübernahme durch das Proletariat. In seinen Erinnerungen bezeugt Gorki die Idylle jener Tage und die Anziehungskraft Lenins auf die Einheimischen, die dem weit gereisten Gast Vertrauen entgegenbrachten, obgleich er ihre Sprache nicht sprach: So wie er lacht nur ein ehrlicher Mann, meinten die Fischer. Lenin lernte von ihnen, mit dem Finger zu fischen, bewaffnet nur mit einer Schnur. Sie rieten ihm, die Schnur einzuholen, sobald er den kleinsten Ruck verspürte. Drin-drin, capisci, sagten sie. Als ein Fisch anbiss, freute sich Lenin wie ein Kind: Aha! Drin-drin! Und die Fischer freuten sich mit ihm und nannten Lenin fortan Signor Drin-drin. Noch lange nach dessen Abreise, so berichtet Gorki, hätten sie ihn nach Lenin gefragt: Wie geht's Signor Drin-drin? Hoffentlich schnappt ihn der Zar nicht . . .
Schließlich war es der Zar, der geschnappt wurde, und Lenin konnte nach Russland zurückkehren. Nach Capri kam er nie wieder. Die Capreser aber gedachten ihres Revolutionärs in residence 1970 mit einer Arbeit des italienischen Bildhauers Giacomo Manzù. Dass das schlichte Denkmal ausgerechnet im ehemaligen Garten der Villa Krupp aufgestellt wurde, macht für den Betrachter spätestens dann Sinn, wenn dahinter die Sonne untergeht. Denn die ist bei Capri noch immer rot. SASCHA JOSUWEIT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen