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Ungebremste Bärenhysterie bei Aktien

Die Panik an den Börsen rund um den Globus hält an. Neue Mehrjahrestiefs. In Deutschland fällt der Nemax des Neuen Marktes unter 900 Punkte. Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel: „Die Stimmung ist schlechter als die Lage.“

BERLIN taz ■ Wie tief können Börsenkurse eigentlich fallen? Wetten können noch abgegeben werden: Die Panikstimmung der vergangenen Woche hat sich über das Wochenende gerettet und trieb gestern die Finanzplätze rund um den Globus weiter um. Das ist kein Wunder, schließlich hatten die USA noch am Freitag zu für asiatische und europäische Verhältnisse später Stunde bekannt gegeben, dass die Arbeitslosenquote statt auf 4,6 unerwartet rasch auf 4,9 Prozent gestiegen ist, den höchsten Stand seit 4 Jahren – und damit die Angst vor einer US- oder auch weltweiten Rezession weiter angeheizt.

Den Anfang machte gestern die Börse in Tokio, wo der Nikkei mit 3 Prozent Verlust auf dem tiefsten Stand seit 17 Jahren landete. Die europäischen Indizes folgten: Der Euro-Stoxx-Index-50 für die wichtigsten Unternehmen der Europäischen Währungsunion rutschte um 2,8 Prozent. Auch der Londoner FTSE-100 fiel zwischenzeitlich erstmals seit 3 Jahren unter 5.000 Punkte. Kaum anders erging es den Börsen in Zürich, Paris, Brüssel, Mailand, Amsterdam und Stockholm. Überall erklärten Händler, Umsätze seien „so gut wie nicht vorhanden“.

Der deutsche Aktienindex Dax, der in den letzten acht Tagen schon 10 Prozent eingebüßt hatte, unterschritt die 4.600er Grenze. Der Index des Neuen Marktes stürzte gar unter 900 Punkte, nachdem er vor einer Woche erst die 1.000er Schallmauer durchbrochen hatte.

„Es scheint, als habe sich bei den Börsianern die Lust, das Ding noch weiter runterzutreiben, verselbstständigt“, sagte der Bremer Finanzwissenschaftler Rudolf Hickel der taz. Nachdem die Anleger zunächst dem Herdentrieb folgend Hightech-Aktien für „Casino mit Jackpotgarantie“ gehalten hätten, was erst zur Überbewertungsblase geführt habe, jagten sie sich nun nach dem Platzen der Blase in die entgegengesetzte Richtung. „Und das weit über die notwendigen Korrekturen hinaus.“

Auch Fondsgesellschaften und Versicherungen haben sich offenbar dieser Entwicklung angeschlossen und trennen sich inzwischen zunehmend nicht nur von Aktienpaketen. Aussagen von Händlern zufolge sollen ganze Fonds vor der Auflösung stehen.

An Geld mangelt es den Finanzmärkten dabei derzeit weltweit nicht: Die meisten Notenbanken haben ihre Zinsen auf Niedrigststände gesenkt und die Geldmengen ausgeweitet. Nur investiert wird nicht. Hickel: „Wer soll denn heute noch raten, in was man anlegen soll?“ Verschärft werde die Bärenhysterie durch vorher in der breiten Öffentlichkeit meist nicht ernst genommene Meldungen über unseriöse Geschäftspraktiken vor allem in der New Economy oder bei Analysten.

Die tatsächliche ökonomische Situation dagegen spiele zumindest für Deutschland offenbar gar keine so großen Rolle. „Die Stimmung ist schlechter als die Lage“, so Hickel. Schließlich habe man bislang nur eine Wachstumsabschwächung „und keine Rezession“. BEATE WILLMS

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