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Die heilige Maria mit Ei

Eine kleine Kapelle in Frankreich dient Rugbyspielern aus aller Welt als Wallfahrtsort. Das Innere von Notre Dame du Rugby präsentiert sich als eine Mischung aus Gotteshaus und Umkleidekabine

aus Grenade-sur-l’AdourREINER LEINEN

Der Ball ist rund? Pustekuchen. Der Ball ist ein Ei, ungefähr 400 Gramm schwer, ein „ballon ovale“ und als solcher Mittelpunkt einer Sportart, die trotz Tour de France sowie Welt- und Europameistertitel im Fußball vieler Franzosen Lieblingskind geblieben und hier, im Department Landes, in jedem Dorf zu Hause ist und geliebt wird. Es ist die Liebe zu einem Sport, dessen mentale Grundvoraussetzung oft genug so beschrieben wurde: „Du musst bereit sein zu sterben!“

Und nun dieses: Das Jesuskind streckt die Arme empor und reicht der Mutter Gottes sein Lieblingsspielzeug: ein Rugbyei. Das ungewöhnliche Motiv findet sich in einer vergitterten Wandnische einer kleinen Kapelle auf den sanften Hügeln von Larrivière, unweit des Örtchens Grenade-sur-l’Adour. Die Kapelle heißt treffend Notre Dame du Rugby – und sie ist der Wallfahrtsort für die rauen Männer einer rauen Sportart.

Der Innenraum der Kapelle gleicht einer Mischung aus Gotteshaus und Umkleidekabine: eine Madonnenstatue, der marmorne Altar, frische Schnittblumen, ein schmiedeeisernes Kreuz, schwere Kerzenständer, bunte Kirchenfenster. Auf einem abgemauerten Sims stehen Bilderrahmen mit Fotografien großer Spieler und unvergessener Spiele. Dunkelbraune Holzlatten ziehen sich an der Wand entlang, mit Kleiderhaken bestückt und voll gehängt mit alten Ballnetzen, abgewetzten Stollenschuhen, dreckigen Stutzen und Vereinswimpeln. Vor allem aber mit Dutzenden von Trikots in Rot und Grün und Blau, gestreift und kariert, die meisten knittrig und mit verblichenen Kragen, vorzugsweise ungewaschen und immer noch mit den Spuren großer Schlachten geziert; mit Blutflecken, Schlammspritzern und handgeschriebenen Erinnerungen, zurückgelassen von den Spielern selbst und kündend von der immer gleichen Botschaft: dem Dank an die Mutter Gottes für ihre schützende Hand über dem umgepflügten Rasen.

Eine Wallfahrtskirche für Rugbyspieler? Warum nicht, fand Abbé Michel Devert in den 60er-Jahren, schließlich gab es auch eine Notre Dame de la Mer, du Risque oder des Cyclistes. Schon Jahre zuvor schwirrte dem Abbé ein Bild durch den Kopf, das er am 29. August 1961 im France-Soir gesehen hatte: Das Foto zeigte ein Kirchenfenster der Pfarrkirche St. Francis im englischen Dudley und dargestellt war dort ein junger Fußballspieler aus Manchester, der bei der Flugzeugkatastrophe von München den Tod gefunden hatte.

Wenn das möglich war, warum, so fragte sich der Abbé, sollte es dann keinen Ort geben können, an dem die Sportart seines Herzens und seiner Heimat einen würdigen Platz fände? Wichtig genug sei es ja, fand der Abbé, schließlich konnte man sehr wohl Rugbychampion sein und dennoch egostisch, bösartig und unanständig. Läuterung täte dem gemeinen Rugbyspieler jedenfalls gut, spirituelle Unterstützung nicht minder. Die Mutter Gottes würde den rauen Burschen schon den Marsch blasen, glaubte Abbé Devert. So kam es, dass er sich mit seinem Anliegen an den Rugbyverband wandte – und dort offene Türen einrannte. Notre Dame du Rugby war geboren und wurde im Juli 1967, begleitet von einem Rugbymatch zwischen den besten Mannschaften der Region auf dem Dorfsportplatz von Grenade-sur-l’Adour, ihrer neuen Bestimmung übergeben.

Seitdem kommen die Rugbyspieler aus aller Welt in Scharen in die alte Pfarrkirche von Saint-Savin-Larrivière, das ganze Jahr über und insbesondere zum Auftakt und Abschluss der Saison, um Beistand bittend oder um eine Kerze anzuzünden. Vielleicht auch, um zum Ende ihrer Sportkarriere das eigene Trikot hier an den Nagel zu hängen oder ihre Fürbitten, Sorgen und Wünsche in dem dickbauchigen goldenen Buch, das auf dem Altar ausliegt, zu verewigen.

„Marie, je t’aime“ steht dort dutzendfach geschrieben; „Notre Dame du Rugby, verlasse mich nie“, oder auch: „Ich habe so viele Spiele gewonnen, bitte lass mich auch im nächsten nicht im Stich.“ Aber auch vor sportfernen Bitten wird nicht Halt gemacht. Einer hat fast eine ganze Seite beschrieben, die mit den Worten schließt: „Wenn es irgendwo einen Plan gäbe, wie es mit meinem Leben weitergehen soll, wäre das genial.“

„Eine wundervolle Kapelle“, sagt Monsieur Ducasse aus La Mure (Isère) und schaut zu einem der Kirchenfenster empor, auf dem sich ein Menschenknäuel zu Füßen der Mutter Gottes um einen eiförmigen Ball rangelt. Heute Nachmittag hat er hier für seinen Sohn ein paar Erinnerungsfotos geschossen und bei Maria ein gutes Wort eingelegt, auf dass Sohnemann auch in Zukunft sportlich erfolgreich sein möge. Mit funkelnden Augen erzählt Monsieur Ducasse von seiner eigenen, lange vergangenen Zeit als aktiver Spieler, von Männerfreundschaften, von großen Triumphen und schmerzlichen Niederlagen, von gestauchten Fingern und gebrochenen Nasenbeinen. Dann kauft er für 25 Franc noch schnell einen Schlüsselanhänger, der die Madonna mit dem Ei zeigt, schreitet zum Altar und verewigt im goldenen Buch seinen allergrößten Wunsch: „Vive le rugby!“

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