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„Die Stadt ist geschlossen“

Angst vor Plünderern? „Ausgeschlossen, hier stehen doch alle, wirklich alle, unter Schock“, sagt ein Ladenbesitzer

„Ich bete nur, dass dieser Idiot von Präsident jetzt keinen Fehler macht“

aus New York NICOLA LIEBERT

Stunden nach der Katastrophe herrscht in New York die sprichwörtliche Ruhe nach dem Sturm. Trotz der gegenteiligen Beteuerungen zahlreicher Politiker ist die Stadt am Dienstagnachmittag nicht länger die pulsierende Metropole, so, wie man sie kennt.

Wo für gewöhnlich an allen Ecken Taxis hupen, Autoalarmanlagen quäken, Airconditioner summen und über all dem Flugzeuge und Hubschrauber dröhnen, ist nichts als eine unheimliche Stille. Ein F-16-Kampfflugzeug zieht eine Zeitlang seine Runden um die Südspitze Manhattans.

Die Straßen gehören den Fußgängern – zunächst denen, die vormittags in großen Scharen aus dem Finanzdistrikt flüchteten, später denen, die von der Arbeit in anderen Stadtteilen heimkehren. Am frühen Abend treibt es die Menschen auf die Straße, einfach weil sie es allein zu Hause vor dem Fernseher nicht mehr aushalten. In der Nacht dann ist Manhatten wie ausgestorben, sogar am Time Square, wo sonst das Nachtleben tobt.

„Was für Leute sind eigentlich Selbstmordattentäter?“ – „Was ist in den entführten Flugzeugen passiert?“ Immer wieder dieselben Fragen werden diskutiert. Aber auch: „Müssen wir noch Angst haben?“ Manch einer überlegt, sich und die Familie außerhalb New Yorks in Sicherheit zu bringen.

In der Stadt, in der man sonst problemlos um drei Uhr morgens seine Einkäufe erledigen kann, sind schon am Nachmittag fast alle Läden und Kneipen geschlossen. „Kein Geschäft heute“, sagt ein Ladenbesitzer, als er gerade die Rollladen herunterlässt. „Alles ist geschlossen, die Stadt ist geschlossen, wir können doch an einem solchen Tag nicht Business as usual machen“, meint eine Barbetreiberin. Die meisten Angestellten haben es ohnehin eilig, nach Hause zu kommen. Viele wollen einfach nur die Nachrichten sehen. Doch in der Stadt, die zu einem beträchtlichen Teil von ihren Börsen und Banken lebt, haben viele Leute Freunde oder Verwandte, die im Finanzdistrikt arbeiten und um die sie sich jetzt Sorgen machen.

Einen weiteren Grund weiß ein Polizist: „Die Leute wollen raus hier. Es glaubt doch keiner, dass das schon alles war.“ Einen Grund mag keiner nennen: die Angst vor Plünderern. „Ausgeschlossen, hier stehen doch alle, wirklich alle, unter Schock“, sagt ein Ladenbesitzer mit Überzeugung.

Während sich in Washington Politiker beider Parteien voll und ganz hinter ihren Präsidenten stellen, ist auf den Straßen New Yorks die Stimmung eine andere. „Ich bete nur, dass dieser Idiot von Präsident jetzt keinen Fehler macht“, sagt einer. „Unter Clinton wäre es vielleicht nicht so weit gekommen, Clinton hätte wenigstens versucht, die Probleme im Nahen Osten zu lösen“, meint ein anderer. „Da sieht man, wie nützlich eine Missile Defense ist“, kommentiert ein Dritter die Pläne George W. Bushs für eine nationale Raketenabwehr.

„Pearl Harbor“ ist an diesem Dienstag in den USA der meistzitierte Begriff. Nie vor dem Angriff der Japaner auf die Militärbasis im Pazifik und – zumindest bis gestern – auch niemals danach wurden die USA Opfer eines Angriffs von außen. Obwohl noch keineswegs absehbar ist, ob die Zahl der Opfer in New York und Washington höher sein wird als die 2.600 Toten von Pearl Harbor, empfinden die meisten Amerikaner die Attacke vom Dienstag als weit dramatischer.

Der Grund dafür dürfte vor allem darin liegen, dass sich die Katastrophe diesmal bis ins Detail live auf den Bildschirmen der Nation entfaltete. „Genau wie beim Angriff auf Pearl Harbor wird jeder Amerikaner bis an sein Lebensende wissen, wo er sich zum Zeitpunkt des Angriffs gerade aufgehalten hat“, meint ein Fernsehkommentator.

Pearl Harbor – dieser Vergleich impliziert auch, dass in den USA zunächst niemand davon ausging, es könne sich bei dem Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon auch um US-amerikanische Terroristen handeln. Jetzt fürchten hier viele, dass die US-Regierung einen übereilten Gegenschlag gegen das nächstbeste Ziel durchführen könnte. „Sie bombardieren Kabul“, schrie ein Fernsehzuschauer aus dem Fenster entsetzt seinen vor dem Haus versammelten Nachbarn zu. Die Erleichterung war groß, als Berichte folgten, wonach die Angriffe von afghanischen Bürgerkriegsparteien und nicht von Washington durchgeführt wurden.

An der Südspitze Manhattans wird auch in der Nacht zu Mittwoch noch hektisch gearbeitet. Lange Schlangen von Lastern und Bulldozern rücken aus Brooklyn an. Ihre Aufgabe ist es, den Schutt wegzuräumen, damit die Retter besser an die Katastrophenstelle gelangen können. Riesige Scheinwerfer sind herbeigeschafft worden, denn es gibt keine Elektrizität in der Umgebung. Die Bewohner von Battery Park City, einem kleinen Stadtteil, der dem ehemaligen World Trade Center im Süden Manhattens vorgelagert ist, sind nach New Jersey evakuiert worden.

Am späten Nachmittag war noch ein weiteres Gebäude eingestürzt und hatte noch eine Rauchwolke über Südmanhattan aufsteigen lassen. Über das Wasser in Richtung Brooklyn flatterten Tausende Papierblätter: Finanzberichte, die noch vor Stunden irgend jemandem schrecklich wichtig erschienen sein müssen.

Selbst Investmentbanker in anderen US-Städten wollten, als sie nach den Auswirkungen auf die Börse gefragt wurden, nicht von Aktienkursen sprechen. Stattdessen berichteten sie von ihrer Sorge um ihre New Yorker Kollegen, von denen viele im World Trade Center ihre Büros hatten.

Am Tag danach wird in den New Yorker Schulen nicht unterrichtet. Viele werden als Unterkunft für Menschen gebraucht, die nicht in ihre Wohnungen an der Südspitze Manhattans zurückkönnen. In anderen Schulen sollen Lehrer darauf vorbereitet werden, bestürzte und verwirrte Kinder zu betreuen und ihnen das Verarbeiten des Gesehenen zu erleichtern.

Ebenfalls geschlossen bleiben an diesem Mittwoch die Börse, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Reste des World Trade Centers befindet, die Stadtverwaltung, das als mögliches Ziel identifizierte Empire State Building sowie die Postämter. Nur die Müllabfuhr funktioniert.

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