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Gottesstaat als Gastgeber

Für Afghanistans Taliban hat die religiös definierte Gemeinschaft der Gläubigen auch bei ihrem Gast Ussama Bin Laden Priorität

aus Delhi BERNARD IMHASLY

„Wenn die USA einen einzelnen Menschen ins Visier nehmen wollen, werden sie ihn nicht finden“, erklärte der Sprecher der afghanischen Taliban am Mittwoch in Anspielung auf ihren prominenten Gast, den saudischen Millionär Ussama Bin Laden. Der Sprecher nannte damit die wichtigste Trumpfkarte, die der des Terrorismus verdächtigte Bin Laden in der Hand hat: Ihm steht ein Territorium zur Verfügung, das anderthalbmal so groß ist wie Deutschland. Und das wird zu über neunzig Prozent von Männern beherrscht, die Bin Ladens religiöse Ideologie teilen.

Wie schwierig es ist, in einem solchen Land einen Mann und dessen engste Gefährten dingfest zu machen, zeigten die Raketenangriffe der USA 1998 gegen Bin Ladens Ausbildungslager. Sie verfehlten zwar ihr Ziel nicht, doch Bin Laden hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Seitdem hat ihn auch ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar nicht zur Strecke gebracht.

Warum nehmen die Taliban internationale Ächtung und US-Marschflugkörper in Kauf, nur um einen einzigen Mann zu schützen, der bereits unter dem Verdacht steht, hinter den Attentaten auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 zu stecken? Die Antwort liegt im Namen, den sich die jungen Afghanen aus den pakistanischen Flüchtlingslagern gaben, als sie sich 1994 in überladenen Lastwagen und Kleinbussen nach Afghanistan aufmachten. „Taliban“ war auch Programm: Die „Islamschüler“ der Madrassen im Nachbarland waren aufgebrochen, um in ihrer Heimat einen Gottesstaat zu errichten.

Die Vätergeneration der Mudschaheddin hatte Afghanistan von den gottlosen Sowjets befreit. Doch als die Sieger sich an die Verteilung der Kriegsbeute machten, besudelten sie sich mit ihren Machtkämpfen und ihrer Geldgier. In den zwei Jahren nach dem Abzug der Sowjets wurde die Hauptstadt Kabul stärker zerstört als in den 13 Kriegsjahren. Das Einpunktprogramm der Taliban – die Einführung eines islamischen „Emirats“ –, ihre Selbstgenügsamkeit und ihr Opferwille machten sie populär. Des Kriegs und der Händel müde, lief das Volk zu ihnen über. Bereits 1996 waren sie Herren in Kabul.

Doch der Islam, den die Taliban einführten, hatte wenig gemein mit der toleranten und urbanen Interpretation, die ihm etwa die afghanischen Könige gegeben hatten. Es war eine finstere und strenge Auslegung der heiligen Schriften und Traditionen. In ihr schwang die bittere Erfahrung von Krieg, Gewalt und Flüchtlingselend mit. In ihr erscheint der fromme Muslim als Mensch, der sich von allen Seiten gefährdet und angegriffen sieht. Er kann sich vor der Versuchung des Bösen – sei es in Form existenzieller Gefährdung, lockerer Moral oder materiellen Verlockungen – nur schützen, indem er diese Übel mit dem Feuer bekämpft. Moralische Versuchung wird gebannt, indem man die Frauen von der Bildfläche verschwinden lässt; und der Gefahr von außen, in Form von materiellen Gütern oder militärischer Unterjochung, wird der „Heilige Krieg“ erklärt. Von Geburt an durch den Krieg geprägt, die Familien auseinander gerissen und in Flüchtlingslagern groß geworden, finden die Taliban in ihrer Form des Islams jene identitätsstiftende Gewissheit, die ihnen das Leben verweigert hat.

Während viele ähnliche Gruppen in der islamischen Welt durch ihre Regierungen und Eliten zurückgebunden und in den Untergrund gedrängt wurden, nennen die afghanischen Taliban ein staatliches Territorium von 600.000 Quadratkilometern ihr eigen. In ihm können sie nicht nur ihre Version des Islam verwirklichen, sie können auch ideologisch verwandten Organisationen Unterkunft, Unterstützung, Ausbildung bieten, ohne durch einen repressiven Staat ständig in die Illegalität gedrängt zu werden. Vertreter des Taliban-Regimes in Kabul machen zwar gelegentlich geltend, dass der Taliban-Staat die Souveränität anderer Staaten respektiere. Doch im Konflikt zwischen dem klassischen Staat und der religiös definierten Gemeinschaft aller Gläubigen hat die „Umma“ immer Vorrang. Die Taliban scheuen sich daher nicht, die Fahne des Islam nach außen zu tragen, sei es nach Kaschmir oder Tschetschenien, sei es durch Unterstützung militanter Gruppen in islamischen Staaten.

Ussama Bin Laden war wohl der Erste gewesen, der den Vorteil erkannte, den ein Territorium als Basis für den Kampf gegen den Feind bot. Sein Weg führte ihn von der Vermittlung nichtafghanischer Freiwilliger für den Krieg gegen die Sowjetbesatzer bis zur Ausbildung und Bewaffnung dieser Religionssöldner. Nach der „Befreiung“ Afghanistans durch die Taliban war die Einrichtung von Trainingslagern im Land selber der logische nächste Schritt. Gleichzeitig änderte sich die Zielsetzung. Es ging nicht mehr um die Befreiung eines nationalen Territoriums wie im Fall des Kriegs gegen die Sowjetbesatzung, sondern um den „Heiligen Krieg“ gegen die säkularen Feinde des Islam – Imperialismus und Zionismus.

Der Golfkrieg von 1991 war für viele Islamisten, darunter auch Ussama Bin Laden, der Augenblick der Wahrheit. In den USA, deren Erfüllungsgehilfen Israel und der westlichen Allianz wurde der neue Feind des Islam ausgemacht. Es war in Afghanistan und nur ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban, als Bin Laden die „Internationale Front für den Dschihad gegen die USA und Israel“ gründete – einen Zusammenschluss von Gruppen aus Ägypten, Sudan, Palästina und Pakistan. In ihrem Manifest werden erstmals nicht nur die beiden Staaten und ihre Institutionen, sondern auch ihre Bürger als legitime Zielscheiben von Kriegshandlungen freigegeben.

Die Virulenz dieser Gruppe liegt nicht nur darin, dass Bin Laden unabhängig ist von arabischen Geldgebern und aus den Jahren seiner Rekrutierungstätigkeit für die Mudschaheddin ein globales Beziehungsnetz besitzt. Er verfügt auch über einen Trumpf, den keine andere islamistische Organisation besitzt: Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens während des afghanischen Befreiungskriegs. Sie gaben ihm Einsicht in westliches Denken, in die technische Logistik und die militärische Organisation von Abwehrdiensten. Mit der Eroberung Afghanistans boten ihm die Taliban mit ihrem Territorialschutz schließlich das noch fehlende Element, um dem mächtigen Feind den Krieg erklären zu können.

Die Drohungen von Präsident George W. Bush und Außenminister Colin Powell nach den Terrorangriffen vom 11. September machen allerdings deutlich, dass nun auch das Taliban-Regime zum Ziel von Vergeltungsschlägen zu werden droht, falls sich der Verdacht einer Täterschaft Bin Ladens festigen sollte. Doch was können solche Vergeltungsschläge erreichen? Die Taliban haben in den fünf Jahren ihrer Herrschaft das kriegsversehrte Land weiter in Schutt und Asche gelegt, und sie haben das Volk vollends von den Brosamen internationaler Hilfsorganisationen abhängig gemacht.

Mit der gleichen Arroganz, mit denen sie wertvolle Weltkulturgüter wie die Buddhas von Bamiyan zerstörten oder internationale Hilfsorganisationen aus dem Land vertreiben, benützen sie nun auch den Zerstörungsgrad ihres Landes, um sich vor Angriffen zu schützen. Als der Taliban-Sprecher Abdul Muttmaen am Mittwoch auf die Möglichkeit von Nato-Angriffen zu sprechen kam, meinte er zu Recht: „Die Nato kann keine wichtigen militärischen oder wirtschaftlichen Installationen treffen, weil es solche gar nicht gibt“. Unmittelbar nach den Angriffen in den USA hatten die Taliban ausgeschlossen, dass Bin Laden als Urheber in Frage käme, weil er dazu nicht in der Lage sei.

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