: Olé, olé, olé, olé
Der Mensch ist grausam. Aber in unseren Breiten will man davon nichts wissen. Wir sind ja zivilisiert, und den Rest sollen Gesetze regeln. In Spanien ist das anders. Gewalt, Macht- und Vernichtungsphantasien fließen dort in archaisches Ritual, den Stierkampf. Es ist empörend. Es ist entsetzlich. Und weil wir es nicht kennen wollen, sind wir hilflos dagegen
von VERENA KERN
Am zweiten Tag sagt mein Begleiter: „Lass uns einen Stierkampf ansehen. Ich war noch nie beim Stierkampf.“ Er heißt Rick, und er hat schon vieles gemacht. Zurzeit arbeitet er als Filmausstatter. Mitte der Achtzigerjahre, kurz bevor wir uns kennen lernten, hat er ein halbes Jahr lang in Madrid gelebt, jetzt besucht er die Stadt zum ersten Mal wieder. Er sagt: „Ich will endlich wissen, wie das ist.“ Ich will endlich wissen, wie das ist. Komisch, denke ich, der Gedanke ist mir selbst nie gekommen. Aber vielleicht hat Rick ja Recht. Vielleicht muss man wirklich wissen, wie es ist.
Es ist Ende Juli, und in Madrid ist es brennend heiß. Selbst die Nächte sind noch warm wie ein Thermalbad. Die Stadt liegt am vierzigsten Breitengrad, im Hochland von Kastilien, 650 Meter über dem Meer. Im Winter ist Madrid ein Eisschrank, aber im Sommer fühlt man sich wie im Innern einer Heizung, die irgendjemand vergessen hat abzudrehen. Man muss sich dem Klima anpassen, die Mittagspausen bis in den späten Nachmittag hinein verlängern und den Tag bis in die späte Nacht. Nur dann ist die Straße der Ort, wo man sich am besten aufhält.
Das derzeit begehrteste Ausgehviertel ist Chueca, rund um die Gran Via, mitten im Zentrum Madrids. Tagsüber wirkt die Gegend wie ein durchschnittliches Wohnviertel, in dem nicht viel passiert. Dass hier noch vor zehn Jahren der stadtbekannte Treffpunkt der Drogenszene war, erscheint genauso wenig vorstellbar wie die neue Attraktivität der Gegend für alle, die sich nachts, wenn die Temperaturen endlich unter dreißig Grad gesunken sind, amüsieren wollen. Chueca ist proper, Chueca ist aufgestiegen. Aber nicht jeder findet das gut, vor allem die Anwohner der Plaza de Chueca nicht. An jedem dritten Balkon hängt ein signalgelbes Transparent, „Vivimos aqui – controla el ruido!“ steht darauf: „Wir leben hier – macht weniger Lärm!“
Die Aktion hat keinen Erfolg. Auch ein halbes Dutzend „Zu Verkaufen“-Schilder sind an den Balkonen angebracht. Und warum sollten sich die Leute auf dem Platz auch den Spaß verderben lassen, bloß weil irgendjemand schlafen will? Es gehört eben zum normalen Lebensrhythmus, die Nacht zum Tag zu machen. Es ist Tradition. Selbst die Müllabfuhr rumpelt erst gegen zwei Uhr morgens durch die Innenstadt.
Jetzt ist es Freitagnachmittag. Wir lungern in unserem abgedunkelten Hotelzimmer herum, trinken Wasser aus großen Plastikflaschen und rauchen wie immer zu viel. „Gib mir ein paar Minuten Bedenkzeit“, sage ich zu Rick.
Wir wohnen im Hotel Monaco in der Calle de Barbieri, nur hundert Meter von der Plaza de Chueca entfernt. Die eine Hälfte des Hotels, wo von den Böden und Decken nur noch morsche Balken übrig sind, wird gerade saniert. Bauarbeiter sind damit beschäftigt, in die verrottete Holzkonstruktion des Gebäudes Stahlträger zu ziehen. Die Baustelle beginnt gleich hinter unserem Zimmer, vis-à-vis des Zweipersonenaufzugs, der tatsächlich noch funktioniert. Die bewohnbaren Zimmer sehen aus wie die Gemächer eines heruntergekommenen Adelsclans, dem schon vor langer Zeit die Mittel ausgegangen sind, um für den eigenen Besitz noch sorgen zu können. Die Räume sind mit antiken Möbeln eingerichtet, überall gibt es Marmor, Goldverzierungen, verschwenderisch viele Spiegel, in jedem Bad ein Bidet. Und es gibt einen Tischventilator, der für ein bisschen Luft sorgt, und man hört den Lärm der Straße dann auch nicht mehr so deutlich.
An den Wänden sind Risse und Wasserflecken, an denen der Putz aufquillt und abbröckelt. In unserem Zimmer ist die hässlichste Stelle mit einer vergilbten Reproduktion von Goyas Maja Vestida, der bekleideten Maja, kaschiert. „Das werden die Nordeuropäer nie verstehen“, sagt Rick. „Dass hier die Dinge wirklich benutzt werden. Und dass es von mehr Respekt gegenüber den Dingen zeugt, wenn man sie benutzt. Weil sie dann erst richtig schön werden.“
Wir waren schon im Prado, wir haben alle Gassen im Vergnügungsviertel Malasaña nördlich der Gran Via abgeklappert, wir waren im legendären Café Comercial an der Plaza Bilbao und in dem mehrstöckigen Technokaufhaus Mercado Fuencarral, wo man zu DJ-Sound eben jene coolen Freizeitklamotten kaufen kann, die überall im Straßenbild zu sehen sind. Zumindest in modischer Hinsicht unterscheidet sich das einst so schicke Madrid nicht mehr von anderen europäischen Städten. „Warum nicht“, sage ich zu Rick. Warum nicht auch zu einem Stierkampf gehen?
Wir fahren mit der U-Bahn ostwärts, zur Plaza de Toros Las Ventas. Las Ventas ist der Name der Arena, abgeleitet vom Namen des Viertels, Plaza de Toros ist das spanische Wort für Stierkampfarena. „Sag bloß nicht Stadion!“, sagt später, wieder in Berlin, Pedro, ein spanischer Freund, zu mir. „Es heißt Plaza!“ Bis Ventas sind es nur ein paar Stationen. Die U-Bahn erinnert an die Londoner Tube, die unterirdischen Stationen sehen wie große Röhren aus, und am Eingang sind Drehkreuze aufgestellt, die man nur mit einem Fahrschein passieren kann. „Hoffentlich“, sagt Rick während der Fahrt, „sind im Moment überhaupt Stierkämpfe.“
Die Arena steht wie eine große runde Schüssel zwischen der kreisförmigen Avenida de los Toreros. Maurischer Stil, 1929 erbaut, 23.000 Plätze, die „Kathedrale des Stierkampfs“, die wichtigste Arena der Welt und nach der in Mexiko-Stadt die Zweitgrößte. Vor dem Eingang ist eine Bronzeskulptur aufgestellt, die eine Stierkampfszene nachbildet. Auf ihrer Rückseite beugt sich eine Engelsgestalt über ein Torerokostüm, denn wie die Legende sagt, wird jeder tote Torero zum Helden, weswegen ihm ein Engel geboren wird, der ihn erst wahrhaft unsterblich macht.
Tatsächlich findet am selben Abend eine „Novillada nocturna“ statt, ein nächtlicher Stierkampf mit jungen Toreros, die sich dem Publikum noch bekannt machen müssen. Der Eintrittspreis ist halbiert, fünfhundert Peseten, etwa sechs Mark. Die Corrida, der Stierkampf, beginnt erst um halb elf, wir haben noch vier Stunden Zeit.
Wir fahren zurück nach Chueca, hängen herum, trinken Bier und entwerfen Theorien darüber, wie man Leute behandeln sollte, die einem auf die Nerven gehen. „Einfach als ND“, sagt Rick. „ND wie Non Definition. Das sind die Leute, die am Filmset nur abgepacktes Essen bekommen und keinen Pfennig mehr als den tariflich geregelten Mindestlohn. Also richtig Scheiße“, sagt er. „Und weißt du was: Die fühlen sich erst wohl, wenn sie genau so behandelt werden.“ – „Das heißt doch, du benutzt sie bloß“, sage ich. „Im Gegenteil“, sagt Rick, „absolut im Gegenteil, und das ist die größere Strafe.“ – „Spinner!“, sage ich, rauche noch ein bisschen und esse eine Jumbopackung Popcorn leer.
Gegen zehn fahren wir wieder zur Arena. Die Schlange vor dem Kartenverkauf reicht fast bis zum U-Bahn-Eingang. Auf dem ganzen Platz sind nun Verkaufsstände aufgebaut, Süßigkeiten, Chips, kalte Getränke, Stierkampfdevotionalien. Wir drängen uns vorbei, Rick hat es eilig, jetzt geht es darum, einen möglichst guten Platz zu bekommen, möglichst nah am Geschehen.
Am ersten Aufgang ist schon alles besetzt. Wir hasten weiter, zum zweiten von insgesamt zehn Aufgängen. Die Sitzreihen der Arena steigen steil nach oben, so steil wie in einem Universitätshörsaal. Man sitzt auf schmalen Steinbänken, für die man sich lederne Sitzpolster ausleihen kann. Es gibt keine Rückenlehne, man kann die Beine nicht ausstrecken, und die Füße stecken in einer Art Regenrinne, nur ein paar Zentimeter vom Vordermann entfernt.
Bis halb elf sind drei Viertel der Plätze besetzt. Ältere Männer, über deren Schmerbäuchen die durchschwitzten Freizeithemden spannen. Hausfrauen mit onduliertem Haar und Fächer in der Hand. Gruppen von jungen Burschen. Büromenschen in tadellosen Anzügen. Leute, deren elegantes Auftreten auch für die Oper reichen würde. Liebespaare und Familien mit kleinen Kindern. Der Eintritt ist für Kinder frei.
Die Corrida ist ein Freizeitvergnügen, die Corrida ist ein Picknick, die Corrida ist Kino. Viele haben Proviant dabei. An jedem Aufgang steht ein Verkäufer bereit, der sein Angebot durch die Reihen brüllt, Chips und kalte Getränke. Rick hebt die Hand, sofort springt der Verkäufer herbei und wühlt zwischen den Eisblöcken in seiner Kühlbox ein paar Bierdosen heraus.
Schlag halb elf geht es los. Die Musikkapelle, die auf den gegenüberliegenden Rängen, etwa fünfzig Meter von uns entfernt, postiert ist, spielt zum Marsch auf, und unter dem Beifall des Publikums beginnt der Einzug der Toreros. Es sind etwa zwei Dutzend Männer, zu Fuß und zu Pferde. Nur drei von ihnen sind Matadore, von denen jeder mit zwei Stieren kämpfen wird. Die anderen sind Helfer mit genau festgelegten Aufgaben. Sie sind diejenigen, die nicht vorkommen in dem Bild, das sich nichtspanische Kulturen üblicherweise vom Stierkampf machen. In diesem Bild ist nur Platz für jenen Teil der Corrida, in dem der Matador mit dem Stier allein in der Arena ist. Aber das ist nur das letzte Drittel.
Ich registriere, dass Rick angefangen hat zu rauchen. Mit der anderen Hand umklammert er seine Kamera, während die Toreros vor der Loge des Stierkampfpräsidenten ihren Gruß entbieten. Zuerst die Alguacilillos, die beiden berittenen „Gerichtsdiener“ in historischen Uniformen, dahinter die Toreros, in Dreierreihen geordnet, an ihrer Spitze die drei Matadore. Ihre Kostüme – Traje de Luces, „Tracht der Lichter“ genannt – sind an Brust und Armen mit Gold verziert, die ihrer Helfer mit Silber oder Schwarz. Die Grundfarbe ihrer Anzüge ist zum Teil rot, zum Teil blau, und sie tragen rosafarbene Kniestrümpfe. Schließlich die beiden berittenen Picadores mit ihren Lanzen, die sie später dem Stier in den Nacken stoßen und damit die Nackenmuskulatur zerfetzen werden. Zum Schluss die Arenaknechte in schlichter Arbeitskleidung, sie sehen aus, als seien sie Straßenkehrer und Gärtner zugleich.
Jedes Detail, erklärt mir Pedro später, ist festgelegt. Jene Nachwuchsmatadore beispielsweise, die ihre Alternativa, die formale Einweisung zum regulären Matador, noch nicht empfangen haben, müssen den Einmarsch barhäuptig absolvieren und tragen den schwarzen Zweispitz unter dem Arm. Selbst die Aufstellung der Matadore nach Alter ist geregelt. Pedro kennt sich erstaunlich gut aus. Er ist Nordspanier, und wenn es nach ihm ginge, würde er den Stierkampf sofort verbieten. „Aber es ist besser, die menschliche Grausamkeit in ein Ritual zu kleiden, anstatt so zu tun, als gäbe es sie gar nicht“, sagt er. „Findest du nicht auch?“
Während die Prozession endet und sich alle auf ihre Positionen begeben, erscheint ein livrierter Herr mit einem großen Schild, auf dem der erste Stier angekündigt wird. Der Herr stellt sich in die Mitte der Arena und dreht langsam das Schild, damit jeder lesen kann, was darauf steht. 450 Kilo (das Mindestgewicht für einen Stier in einer regulären Corrida liegt bei 460 Kilogramm; bei Novilladas sind Abweichungen erlaubt), der Name des Züchters, das Geburtsdatum des Stiers, Februar 1998, also deutlich jünger als üblich, und die Nummer des Stiers. Es ist die Dreißig.
Jetzt ist die Arena leer. Die Toreros, die am ersten Kampf beteiligt sind, stehen hinter den beiden Bretterverschlägen, die in der Arena Schutz bieten vor dem Stier. Das Tor fliegt auf, es ist das „Tor der Angst“, und der Stier stürmt über den Platz. Er ist dunkel, fast schwarz, für die genaue Bezeichnung seines Aussehens gibt es mehr als zwei Dutzend Begriffe, für das Verhalten eines Stiers an die achtzig, von bravo und fiero für „wild“ bis zu soso für „lahm“ und abanto für einen Stier, der anfangs kampfunwillig ist, dann aber immer besser wird.
Der Stier stoppt, stürmt wieder los, stoppt wieder. Seine Hörner sehen beängstigend aus, aber er selbst wirkt verwirrt. Der Stier wirkt verwirrt. Kann man das so sagen?, überlege ich. Während er doch ganz offensichtlich seine Kraft und sein Temperament dem Publikum und den Toreros vorführen soll. Als Verkörperung animalischer Gewalt. Ich schaue hinüber zu Rick. Er hält noch immer die verglühte Zigarette in der Hand. Er scheint sich nicht mehr bewegt zu haben, seitdem der Stier in der Arena ist. Ich greife nach der Bierdose und konzentriere mich wieder.
Nachdem der Stier ein paarmal hin und her gerannt ist, betreten fünf oder sechs Toreros den Platz. Sie wedeln mit ihren Tüchern, den Capas, und lenken die Aufmerksamkeit des Stiers mal hierhin, mal dorthin. Die Tücher sind keineswegs rot, sie sind leuchtend rosa und auf der Rückseite gelb, und der Stier scheint auch nicht auf die Farbe zu reagieren, sondern auf die Bewegung.
Die Toreros benehmen sich, als wollten sie dem Stier einen Streich spielen, wie Max und Moritz, geht mir durch den Kopf. Sie wagen sich nur wenige Schritte von den Bretterverschlägen weg. Sobald der Stier in ihre Richtung rennt – auf kurze Distanz sind Stiere schneller als Rennpferde –, springen die Toreros wie die Hasen wieder zurück, als seien sie Darsteller in einer Slapstickkomödie. Dann steht der Stier vor der Bretterwand und stößt seine Hörner in die Wand, wieder und wieder. Und er scharrt mit seinen Hufen, was furchterregend aussieht, aber trotzdem als Zeichen der Feigheit gilt.
In dieser Phase geht es darum, den Stier zu reizen, ihn wild zu machen und zugleich seine Ermüdung und Unterwerfung einzuleiten. Das Wort „Torero“ ist vom spanischen torear abgeleitet, was „ausweichen“ und „verwirren“ bedeutet. Und es geht darum, den Stier zu studieren, damit der Matador, der „Töter“, die Stärken und Schwächen seines künftigen Gegners erkennen und später ausnutzen kann.
Wieder spielt die Kapelle auf, diesmal ist es ein Pasodoble, und kündigt den Picador, den Lanzenreiter, an. Mit seinem Erscheinen beginnt das erste Drittel der Corrida, der Tercio de Varas. Er ist ein bulliger, älterer Mann, dessen Physis schiere Kaltblütigkeit ausstrahlt. Auf einem gepanzerten Pferd, dessen Augen verbunden sind, reitet er in die Arena. Er trägt einen flachen, breitkrempigen Hut, sein Gesicht ist kaum zu sehen, und in der Hand hält er die Pica, eine Lanze mit einer drei Zentimeter langen Spitze. Auch seine Füße und Unterschenkel sind gepanzert – nur hier ist er für den Stier erreichbar.
Der Picador postiert sich außerhalb der beiden Kreidekreise, die auf dem Sandboden aufgetragen sind, und wartet darauf, dass der Stier angreifen wird, die Lanze erhoben. Der Stier macht zunächst keine Anstalten, den ihm zugedachten Part zu übernehmen. Er steht in der Arena, reißt seinen Kopf herum, zögert, er scheint ebenfalls zu warten. Die Toreros springen herbei und schwenken ihre Capas, bis sich der Stier endlich dem Picador nähert.
Jetzt greift der Stier an. Er senkt den Kopf, er muss den Kopf senken, weil er mit seinen Hörnern angreift. Er rammt seinen großen Schädel in die Flanke des Pferdes und bietet dem Picador damit zugleich seinen Nacken dar. Im selben Moment stößt der Picador zu, neun Zentimeter tief, so ist es Vorschrift. Er zieht die Lanze heraus und stößt noch einmal zu, mit aller Kraft, er beugt sich weit hinunter, während der Stier noch immer das zurückweichende Pferd anzugreifen versucht.
„Der Stier muss jetzt wissen, dass er getötet wird“, sagt Pedro später. „Verstehst du? Darum geht es.“ Das soll seine Wut und seine Angriffslust steigern. Aber zugleich ist es auch der Beginn einer systematischen Schwächung und Zermürbung des Stieres. Er verliert Blut, sein Kreislauf wird instabil, die Schmerzen mindern seine Konzentrationsfähigkeit, und die Stoßkraft seines Kopfes wird so weit herabgesetzt, dass er für den Matador kaum noch zu einer tödlichen Gefahr werden kann.
„Sieh dir das an!“, sage ich zu Rick, obwohl ich weiß, dass er alles sieht. „Wie abgefuckt, wie technokratisch die sich verhalten, während sie den Stier fertig machen!“ Rick sitzt immer noch unbeweglich da. Er antwortet nicht. Inzwischen hat der Picador seinen Platz verlassen und umreitet die Arena. Das Publikum spendet warmen Applaus, und er zieht seinen Hut.
Der Tercio de Banderillas, das zweite Drittel, beginnt. Banderillas sind etwa 65 Zentimeter lange, bunt geschmückte Spieße mit Widerhaken. Sechs davon, dreimal je zwei, werden dem Stier von den Banderilleros aus großer Nähe in den Nacken geworfen. Dort bleiben sie stecken und erschöpfen die Kampfkraft des Stieres noch mehr. Der Stier sieht jetzt aus wie ein Pfingstochse, er ist verletzt und gedemütigt, und damit ist es Zeit für das letzte Drittel, für den Tercio de Muleta y Estocada, das Drittel des Todes, in dem es zu jenem Zweikampf zwischen Matador und Stier kommt, der das Stierkampfbild des kollektiven Gedächtnisses prägt, tatsächlich aber ein Kampf der Ungleichen ist. Der Stier hat keine Chance. Er ist zugerichtet, er ist präpariert. Ohne die ersten beiden Drittel wäre der Matador nicht in der Lage, den Stier zu töten.
Der Matador benutzt nun die Muleta, ein kleineres, dunkelrotes Tuch, das an einem Holzdegen befestigt ist. Er schreit den Stier an, er provoziert ihn und lässt ihn hin und her rennen, wie es ihm gefällt. Rick macht nun ein Foto von dem Stier nach dem anderen, während sich der Matador in immer elaboriertere Pirouetten hineinsteigert, für die er vom Publikum Applaus und Begeisterungsschreie erntet. Wenn er wider Erwarten doch von dem Stier angegriffen wird, stürzen sofort seine Helfer herbei und lenken den Stier von ihm ab.
Dann lässt sich der Matador von einem Helfer den Degen reichen. Er stößt den Degen tief in den Nacken des Stiers, bis nur noch der Griff zu sehen ist. Nicht immer ist der Stier sofort tot. Manchmal kann er sich noch auf den Beinen halten. Dann sticht der Matador noch einmal zu. Und manchmal bricht der Stier zusammen, zuckt aber noch. Dann springt ein weiterer Helfer herbei und stößt mit einem kurzen Dolch in den Schädel des Stiers und rührt und stößt, bis es vorbei ist. Zwanzig Minuten hat es gedauert, von dem Moment an, in dem der Stier die Arena betrat.
Auf den Rängen sind alle aufgesprungen und applaudieren. Und sie schwenken weiße Papiertaschentücher. Es ist die Bitte an den Präsidenten, dem Matador ein Ohr des Stiers zuzugestehen. Doch der rührt sich nicht. Nur wenn ein Kampf außerordentlich war, wird der Bitte entsprochen. Der Matador und seine Helfer drehen ihre Ehrenrunde und empfangen den Jubel des Publikums, das dem Matador Blumen und Kleidungsstücke zuwirft. Aber es sind die Helfer, die sich bücken und die Gaben dem Matador reichen, und er wirft sie zurück ins Publikum.
Ein Maultiergespann trabt in die Arena und schleift den Stier hinaus. Die Areneros verwischen mit großen Rechen die Blutspuren im Sand. Der livrierte Herr tritt wieder auf und kündigt den nächsten Stier an. Das Publikum ordert neue Getränke. „Und?“, frage ich Rick, „haben sie den Stier nun benutzt oder nicht?“ Er macht ein Gesicht wie Henry Miller. „Sie haben ihn eher wie ND behandelt, und das ist schade“, sagt er, „aber ich finde die Idee des Stierkampfs nach wie vor gut. Risiko. Todesgefahr. Lass uns doch mal nach Sevilla fahren und einen echten Stierkampf ansehen.“ – „Ja“, sage ich, „warum nicht.“
Wir halten drei Kämpfe durch, bevor wir wieder nach Chueca fahren. Es ist halb zwölf und immer noch schwül. Rick hat Hunger und wir gehen in ein uruguayisches Restaurant, in dem die Kellner schwarze Pluderhosen mit breiten Gürteln und riesigen Schnallen tragen. Fast alle Tische sind besetzt. Es ist in Spanien üblich, erst sehr spät zu essen. Warum sollte man es anders machen, nur weil irgendjemand behauptet, das könne ungesund sein? Und warum sollte man nicht mehr zum Stierkampf gehen, nur weil irgendjemand meint, das Ganze sei doch ziemlich feige? „Es macht die Spanier stolz, dass sie eine ihrer ältesten Traditionen bis in die Gegenwart gerettet haben“, sagt Pedro später. „Es geht um Religion.“
Rick bestellt ein Rumpsteak, es ist ein gewaltiger Fleischlappen, der auf einem Holzbrett serviert wird. „Das ist meine Hommage an den Stier“, sagt er.
Eine Woche später, als wir wieder in Deutschland sind, telefoniere ich mit Rick. „Wie geht es dir?“, frage ich ihn. „Großartig“, sagt er, „ich habe endlich alle Mitarbeiter rausgeschmissen, die mich schon lange genervt haben“. Er lacht. „Und“, sagt er, „vorher habe ich sie noch richtig fertig gemacht“.
VERENA KERN, 37, ist taz.mag-Redakteurin
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