piwik no script img

Beträchtliche Fallhöhe

Zum x-ten Mal die eigene Vergangenheit verarbeitet: Harry Mulisch liest im Literaturhaus aus seinem neuen Roman Siegfried  ■ Von Andi Schoon

Harry Mulisch scheut sie nicht, die großen Themen, die Zusammenhänge und Selbstbekenntnisse. Dabei wird in seinen Büchern oft zig Seiten lang palavert, bis sich ein schwelender Subtext Bahn bricht und zu bedeutungsschwangeren Plots und irrsinnigen Theorien leitet. Am Wendepunkt kann es schon einmal passieren, dass die Hauptfigur einen Meteoriten an den Kopf bekommt. Manchmal enden die Geschichten in Traumsequen-zen, in denen der Messias die Bundeslade findet oder Eva Braun von den letzten Stunden im Führerbunker erzählt.

Harry Mulisch, Jahrgang 1927, gehört zu den meistgelesenen europäischen Autoren. Die erste Auflage seines neuen Buches Siegfried war nach drei Wochen vergriffen. Medienwirksam hatte er darauf hingewiesen, in diesem Werk eine „definitive Aussage“ zu Adolf Hitler getroffen zu haben – er, der seine Herkunft als Sohn einer Jüdin und eines niederländischen Kollaborateurs in jedem seiner Bücher thematisiert hat. Letztlich ist die versprochene Aussage weit weniger spektakulär ausgefallen als die Geschehnisse, die den Protagonisten Rudolf Herter zu ihr führen. Herter – unverhohlen als Alter Ego des Autors gezeichnet – ist ein wild denkender und erfolgreicher Schriftsteller. Während einer Lesereise nach Wien überkommt ihn eine Idee. Alle bisherigen Untersuchungen hätten den schrecklichen Sohn der Stadt nur noch undurchsichtiger werden lassen. Man müsse wohl, so beschließt Herter, über die Fiktion versuchen, an ihn heranzukommen. Doch gerade als er beginnt, sich erste Begebenheiten aus des Führers privatem Leben auszumalen, macht die Wirklichkeit jedes weitere Phantasieren unnötig. Herter lernt die alten Eheleute Julia und Ullrich Falk kennen, die während der Kriegsjahre Kammerdiener Hitlers waren. Sie erzählen ihm etwas Unglaubliches. Hitler soll mit Eva Braun einen Sohn gehabt haben, den die Falks als ihr Kind ausgeben mussten. Später habe Hitler ihn umbringen lassen. Nun wähnt sich Herter dem wahren Wesen des Diktators auf der Spur. Viele große Namen kommen ins Spiel. Nietzsche wird anhand einer mysteriösen Verbindungsli-nie als Hitlers Prophet und erstes Opfer identifiziert: „Nach dem Tod Gottes stand das Nichts vor der Tür, und Hitler war sein eingeborener Sohn. Ä...Ü Der absolute, logische Antichrist.“ Mit faustischer Entschlossenheit stellt sich der wackere Herter der mythischen Wahrheit. Kein Wunder, denn er sieht sich selbst als „Gesandten des Ganz Anderen.“ Er und Nietzsche, sie beide hätten den „Feind des Lichts“ jetzt „in der Zange“. Welchen Preis der Schriftsteller für solche Hybris am Schluss zahlen muss, lässt sich erahnen.

Das Motiv metaphysischer Determiniertheit findet sich bei Mulisch nicht zum ersten Mal. Schon in Die Entdeckung des Himmels hatten überirdische, hier freilich himmlische Kräfte eine Niederkunft in die Wege geleitet. Auch der hochbegabte göttliche Sprössling aus der „Entdeckung ...“ taucht wieder auf: Sowohl Herters Sohn Marnix als auch Hitlers kleiner „Siggi“ gleichen ihm aufs Wort.

Hitler entlarven, sich als Gesandter stilisieren, mit Metaphysik und Verwandtschaft prahlen: Mulisch schreibt, bei aller sprachlichen Lockerheit, aus beachtlicher Fallhöhe. Keine der bisherigen Kritiken behauptete allerdings, dass da jemand den Mund zu voll genommen habe, weil man Mulischs Vorliebe für abseitige Szenarien kennt und schätzt.

Noch so ein Motiv aus Siegfried: der Autor, der auf seinen Lesungen zu geistiger Abwesenheit neigt. Zeugen früherer Auftritte Mulischs berichten aber, dass der elegante Herr im Gegenzug auch das Publikum gelegentlich von seinen Worten abzulenken weiß – mit teuren braunen Anzügen.

Harry Mulisch: Siegfried. Hanser-Verlag, 192 S., 35 Mark.

Lesung: Mittwoch, 26.9., 20 Uhr, Curio-Haus

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen