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„Die Kanonen haben sich gedreht“

Der Gesellschaftskritiker Noam Chomsky über Ursachen und Folgen des Terrors und wie die USA angemessen auf die Anschläge reagieren könnten

Interview DANIEL BAX

Herr Chomsky, welche Auswirkungen hat der Terroranschlag vom 11. September auf die Antiglobalisierungsbewegung und auf die Linke in den USA?

Das Attentat war ein niederschmetternder Schlag für jeden, der sich gegen konzentrierte Machtstrukturen wendet. Es war ein niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und Unterdrückten und alle anderen – weil es ihre legitimen Ängste und Klagen in den Hintergrund gedrängt hat. Die Leute richten ihre Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Geschehen, was nur natürlich ist.

Wie hat sich die öffentliche Meinung in den USA nach dem Anschlag verändert?

Man muss unterscheiden zwischen den Medien und der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung ist beherrscht vom Schock, von Wut und Angst, aber bei weitem nicht so uniform und hysterisch, wie die Berichterstattung glauben macht. Die öffentliche Meinung drückt sich auch anders aus: Im Moment finden gerade Hunderte von Teach-ins statt, im ganzen Land. Wenn man den oberflächlichen Meinungsumfragen glaubt, dann sieht es so aus, als ob eine Mehrheit will, dass gebombt wird – egal, wer dabei draufgeht. Aber ich bezweifle, dass eine wirkliche Mehrheit für einen Militärschlag ist.

Wenn das so ist: Haben Sie Hoffnung, dass sich das auf die Politik auswirkt?

Kurz nach so einem Terrorangriff ist kein schneller Kurswechsel zu erwarten. Die Frage ist, ob die Sorgen der Bevölkerung in einen Druck münden, sich dem Hintergrund dessen hinzuwenden, was da passiert ist. Das kann man nicht vorhersagen. Auch 1965 hätte niemand vorhersehen können, dass eine ernsthafte Opposition gegen den Vietnamkrieg zustande kommt. Noch 1966 konnten wir in Boston, einer liberalen Stadt, keine öffentlichen Meetings veranstalten, weil diese durch Studenten und andere gesprengt wurden.

Was sollten die USA tun?

Es gibt einen klaren Weg, wie man in solchen Fällen zu reagieren hat. Es gibt ein internationales Recht, und das wird auch von anderen Ländern befolgt. Wir sind schon Zeugen von schlimmeren terroristischen Grausamkeiten gewesen. Nicaragua beispielsweise musste Mitte der 80er-Jahre schwere Angriffe durch die USA erleiden. Das Land ist daraufhin vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen. Der Gerichtshof hat die USA wegen unrechtmäßiger Gewaltanwendung verurteilt – ein anderes Wort für Terrorismus – und sie aufgefordert, Reparationen zu zahlen. Die USA haben dieses Urteil schlichtweg in den Wind geschlagen, daraufhin hat sich Nicaragua an den Sicherheitsrat gewandt. Der Sicherheitsrat hat eine Resolution erlassen, die allen Staaten auferlegt, sich an internationales Recht zu halten. Die UN-Vollversammlung hat dies mit überwältigender Mehrheit unterstützt – mit Ausnahme der USA und Israel. Die USA könnten den gleichen Kurs einschlagen – Beweise finden und sie dem Internationalen Gerichtshof vorlegen.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag urteilt nur über Staaten. Dass der Gegner diesmal kein Staat ist . . .

. . . macht im Prinzip keinen Unterschied. Es gibt in diesem Fall, in dem es sehr schwierig ist, Indizien zu finden für das, was passiert ist, umso mehr Gründe, nicht einfach blindlings loszuschlagen. Nehmen wir an, jemand bringt Ihren Bruder um, und Sie wissen nicht, wer es getan hat. Wenn Sie dann einfach jeden umbringen, der auf der anderen Straßenseite wohnt – wäre das die richtige Reaktion?

Nein, sicher nicht. Aber in diesem Fall sieht es nicht so aus, als ob Afghanistan willens sei, den Verdächtigen auszuliefern.

Das ist nicht das, was sie gesagt haben. Sie haben gesagt: Liefert Beweise, dann werden wir uns beraten. Sie werden ihn ausweisen, da habe ich keinen Zweifel.

Ist das Attentat ein historischer Wendepunkt?

Ich stimme Leuten zu, die meinen, dass es ein neues Kapitel in der Geschichte ist. Man muss nur in die Geschichte der USA zurückblicken: Das ist das erste Mal seit dem Krieg von 1812, dass das Territorium der USA angegriffen, ja auch nur bedroht worden ist. Seit dieser Zeit haben die USA einen großen Teil der indigenen Bevölkerung ausgerottet, ein Drittel von Mexiko erobert und sich ausgedehnt, Hawaii und die Philippinen erobert und haben seit einem halben Jahrhundert weltweit interveniert. So sind wir das gewohnt: Wir greifen andere an. Jetzt haben sich die Kanonen in die andere Richtung gedreht.

Das heißt, Sie sehen den Anschlag als Reaktion auf die amerikanische Nahost-Politik?

Die Attentäter sind eine Kategorie für sich. Aber es gibt keinen Zweifel, dass sie aus einem großen Reservoir aus Wut und Angst schöpfen. Das Wall Street Journal beispielsweise hat, ein paar Tage nach dem Anschlag, eine Untersuchung durchgeführt, um die Einstellung von reichen Menschen in der Region zu erfragen: Akademiker, Banker, Geschäftsleute mit Verbindungen zu den USA. Diese Leute sind im Grunde sehr proamerikanisch. Aber auch sie haben große Vorbehalte gegenüber dem Vorgehen der USA in der Region.

Was befürchten Sie?

Alles hängt jetzt davon ab, wie die US-Regierung reagieren wird. Wenn sie Bin Ladens Gebete erhört und einen massiven Angriff gegen Afghanistan oder irgendeine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann wird genau das passieren, was Bin Laden und seine Verbündeten wollen – eine Mobilisierung gegen den Westen. Das ist die gleiche Dynamik, die man aus Nordirland kennt, vom Balkan und aus Palästina. Sie stärkt die repressiven Kräfte auf beiden Seiten. Wenn die Antwort auf Terror und Gewalt ein schlichtes Hinwegsehen über die Gründe dafür ist, dann wird das in den bekannten Kreislauf der Gewalt führen. Und jeder, der mit Bin Laden vertraut ist, weiß, dass er genau darauf hofft.

Werden die USA solchen Warnungen Gehör schenken?

Sie meinen, mit den Worten dieser proamerikanischen Geschäftsleute: Werden die USA aufhören, repressive Regimes zu unterstützen, die freie Entwicklung der Ökonomien zu blockieren, antidemokratische Bewegungen zu unterstützen und die Zivilgesellschaft im Irak zu zerstören, indem sie Saddam Hussein durch das Embargo stärken, und zur gleichen Zeit Israels Besatzungspolitik decken, die inzwischen in ihr 35. Jahr geht? Nun, wenn nicht, kann man ziemlich sicher sein, dass sich die Gewalt weiter hochschaukelt.

Alternative Strategien setzen Geduld voraus.

Nein, gar nicht. Was das Embargo gegen den Irak angeht oder die Politik Israels, so wäre es möglich, ziemlich schnell an einen Punkt zu kommen, der im Grunde ein breiter internationaler Konsens in dieser Frage ist. Das ist nichts Radikales.

Aber auch nicht unbedingt das, um was es den Attentätern bei ihrem Anschlag ging?

Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob das Netzwerk von Bin Laden dahinter steht, aber es scheint plausibel. Die Attentäter sind eine Kategorie für sich: Das sind Leute, die in den 80er-Jahren durch die US-Regierung und den Geheimdienst Pakistans rekrutiert und trainiert, ausgerüstet und unterstützt wurden, um den Russen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Natürlich wurden dafür die besten Killer unter Vertrag genommen, die man finden konnte – und das waren nun mal radikale islamische Fundamentalisten. Diese so genannten Afghanis haben auch auf dem Territorium Russlands eine Handvoll terroristischer Attacken ausgeführt. Aber ihr eigentliches Ziel war, die Russen aus Afghanistan zu vertreiben. Nachdem die Russen Afghanistan verlassen hatten, haben sie das Land in Schutt und Asche gelegt. Das Ende vom Lied waren die Taliban. Dieselben „Afghanis“ kämpften später auch in Tschetschenien und anderswo. Sie haben auf dem Balkan gekämpft, mit US-Unterstützung, nachdem die USA sich der bosnischen Muslime annahmen, zu deren langfristigem Schaden. Ihre Hauptgegner sind heute aber Saudi-Arabien und die Regimes der Region, die sie als unislamisch betrachten. Als die USA 1990 ihre Truppen auf Dauer in Saudi-Arabien stationiert haben, haben Bin Laden und andere das verurteilt – für sie war das schlimmer als die russische Invasion Afghanistans, wegen der Bedeutung Saudi-Arabiens aufgrund der heiligen Stätten des Islam. Bin Laden spricht sehr deutlich, und seine Worte decken sich mit seinen Taten.

Seinen Wünschen Folge zu leisten würde aber doch darauf hinauslaufen, die autoritären Regimes der Region – etwa in Saudi-Arabien – durch andere, noch repressivere zu ersetzen?

Wenn man versucht zu verstehen, was er sagt, heißt das nicht, seinen Anweisungen zu folgen. Die Frage ist: Was wollen sie?

Sie wollen den Nahen Osten in eine Art islamisch befreite Zone verwandeln – ähnlich, wie es rechtsradikale Milizen gerne, von ihrer Seite aus, mit den USA machen würden.

In ihrer Ideologie gibt es sicher gewisse Ähnlichkeiten. Aber wenn man einen Umgang mit diesen Milizen finden will, muss man auch wissen, was sie wollen und was ihr Hintergrund ist.

Was heißt das konkret für den Umgang mit ihnen?

Was hat man gemacht, nachdem Timothy McVeigh das Gebäude in Oklahoma in die Luft gejagt hat? Man fand heraus, was ihn angetrieben hat – was diese Wut und Angst genährt hat, aus der sich diese terroristischen Anschläge speisen.

Und wie beugt man solchen Attentaten in Zukunft vor?

Es gibt fast immer Elemente legitimen Grolls in diesen Taten. Denen muss man sich stellen und versuchen, deren Ursachen zu reduzieren. Und natürlich muss man die Attentäter verfolgen. Das ist das, was man tun sollte – wie in jedem anderen Fall.

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