In Verteidigung des Westens

Die Abwehr der Schwarzen und Hispanics in Afghanistan: Samuel Huntington hat seine Thesen über den Kampf der Kulturen modifiziert. Sie werden als gewöhnliche Modernisierungstheorie kenntlich

von ANDREW JAMES JOHNSTON

Die Terrorakte in New York und Washington werden viele Folgen haben, manche von ihnen überraschend, die meisten unangenehm. Zu den unangenehmen Folgen, die sich schon jetzt einstellen, zählt eine intellektuelle: die Wiederkehr der These vom „Kampf der Kulturen“.

Erstmals 1993 verfocht der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington in einem Artikel die Idee, dass die großen Konflikte der Zukunft nicht wirtschaftliche, nationale oder ideologische Ursachen haben werden, sondern kulturelle. „Kultur“ meint hier jedoch vor allem „Religion“, und von den Auseinandersetzungen zwischen den acht Kulturkreisen, die er für wichtig hält, beschäftigen ihn besonders diejenigen zwischen dem Islam und dem Westen. Diese, so Huntington, werden sich verschärfen, denn vom Islam gehe das größte Bedrohungspotenzial jenseits der Frontlinie aus, welche the West von the Rest trennt.

Einwände sind Legion

Stichhaltige Einwände gegen Huntingtons These sind Legion: Etwa dass der europäische Westen zunehmend atheistisch wird; dass Huntingtons „slawischer Kulturkreis“ ebenfalls christlich ist; dass in den Jahren unmittelbar vor und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gewaltsame Auseinandersetzungen viel häufiger innerhalb der von ihm konstruierten Kulturkreise vorkamen als zwischen ihnen; dass in allen Kriegen seit 1989 ökonomische Interessen oder ethnische Differenzen im Vordergrund standen; dass sein religiös definierter Kulturbegriff viel zu eng ist. Huntingtons Theoriegebäude hält keiner näheren Prüfung stand.

Dennoch ist seine These nicht in der Versenkung verschwunden. Eine eigentümliche Faszination geht von Huntingtons Gedanken aus, und seit das World Trade Center in sich zusammengestürzt ist, hat der „Kampf der Kulturen“ wieder Konjunktur.

Das ist umso interessanter, als Huntington selbst im Moment seine These für weit weniger aktuell hält als diejenigen, die ihn lauthals zum Propheten stilisieren. Ein Grund dafür mag sein, dass sich Huntingtons Gedankengebäude mit den Jahren verändert hat.

Was er ursprünglich unter dem Schlagwort des Kampfes der Kulturen („The Clash of Civilizations“) verkündete, hat er in einem Buch 1996 an einem wesentlichen, nur scheinbar unauffälligen Punkt modifiziert. Schien Huntington im ersten Entwurf der Theorie noch ganz grundsätzlich von einem notwendigen gegenseitigen Hass verschiedener Kulturen überzeugt, stellte er das Konfliktpotenzial der Kulturen später in einen modernisierungstheoretischen Zusammenhang. Die von ihm beobachtete Feindseligkeit islamischer Gruppen wurde nun als Reaktion auf den Modernisierungs- und Verwestlichungsdruck, als Teil einer Suche nach Identität unter den Bedingungen der Globalisierung gewertet. Und damit verliert seine These nicht nur erheblich an Neuigkeitswert, sondern auch an argumentativer Schärfe.

Sah es zuerst so aus, als glaubte Huntington an ewig gleiche, unveränderliche Normensysteme, die sich letztlich der Analyse entziehen, beschreibt er jetzt die kulturellen Verwerfungen als Produkt, besser Teil sozioökonomischer Entwicklungen, die sich in unterschiedlichen Teilen der Welt, und damit auch des Islam, unterschiedlich auswirken können. So gesehen kommt es bei dem Szenario nicht primär darauf an, ob eine Nation oder Gruppe islamisch ist oder nicht, sondern eher darauf, ob und, wenn ja, auf welche Weise sie islamische Traditionen in ihrer Verarbeitung des Modernisierungserlebnisses neu interpretiert.

Was anfangs wie ein multikultureller Weltgeist wirkte, entpuppte sich in der nächsten gedanklichen Entwicklungsstufe als ein alter Bekannter aus der Familie der Modernisierungstheorien. Dass Huntington auf seine methodische Akzentverschiebung nicht allzu deutlich hinweist, überrascht nicht. Schließlich könnte ja sonst auffallen, dass seinen Thesen ein gutes Stück ihrer Brisanz abhanden gekommen ist.

Aber noch ein zweiter Aspekt seiner Gedankenwelt wurde 1996 sichtbar. Obwohl der Islam für ihn das Feindbild Nummer eins darstellt, gegen den der Westen sich und seine Werte schützen muss, erzählt er auch von US-Kaliforniern mexikanischer Herkunft, die bei Demonstrationen für Spanisch als Schulsprache mexikanische Fahnen schwenkten. Somit verteidigt Huntington den Westen nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch zu Hause. In seinen Thesen regt sich das weiße und englischsprachige Amerika gegen die multikulturellen Zumutungen als Folge seiner jüngeren (und älteren) Einwanderungsgeschichte. Demnach sind Huntingtons Thesen Teil jener inneramerikanischen Konflikte, in denen die Minderheiten ihre jeweiligen „Kulturen“ im Streit um Identität und Rechte innerhalb und außerhalb des Campus ins Feld führen. Und hier zeigt sich, dass der Professor Huntington aus den Debatten um die kulturellen Ideale an den amerikanischen Universitäten gelernt hat.

Wenn er das Stichwort vom „Menschenrechtsimperialismus“ aufgreift, dann nutzt er ein „linkes“ Argumentationsmuster, um Machtpolitik und Welthandel moralfrei zu halten. Nicht weniger geschickt greift er die Sprache seiner innerakademischen Gegner auf, wenn er fordert, dass man die fremden Kulturen studieren müsse, um sie zu „verstehen“.

Doch dies ist ein bloß taktisches Verstehen, das davon ausgeht, dass die fundamentale Andersartigkeit des Gegenübers nicht überwunden werden kann. Das Studium fremder Kulturen à la Huntington gleicht einer anwendungsbezogenen Verhaltensforschung, wie sie jeder Hundefreund im Alltag betreibt. Man muss einfach lernen, mit Islamisten umzugehen, damit sie nicht beißen.

Näher, als uns lieb ist

Dass der jüngste Biss dieser Islamisten gerade darin bestand, Hollywoods Katastrophenszenarien nachzuspielen und zu übertreffen, dass der Biss eher dem Arsenal westlicher als islamischer Mythen entstammte, stellen die neuen Kulturtheoretiker im Gefolge Huntingtons nicht in Rechnung. Täten sie es, müssten sie erschreckt zur Kenntnis nehmen, dass die gewaltbereiten Vertreter der angeblich so anderen Kultur ihnen viel näher sind, als ihnen lieb ist.

Wenn Huntingtons Thesen also gerade jetzt so begeistert zitiert werden, dann ohne die Implikationen seiner modernisierungstheoretischen Korrekturen zu berücksichtigen, ohne zu bedenken, dass auch für Huntington Kulturen nur im Zusammenleben von Menschen entstehen und sich ändern, je nachdem, wie Menschen mit gesellschaftlichen Problemen konfrontiert werden.

Was seinen Ideen ferner solchen Erfolg sichert ist, dass sie letztlich die Konfliktlinien aus seiner Heimat – genauer: vor allem die aus dem amerikanischen Bildungssystem – auf die ganze Welt projizieren. Die Abwehr von Schwarzen und Hispanics setzt sich in Afghanistan fort. Und schließlich gelingt es Huntington trotz seiner martialischen Rede vom Kampf der Kulturen, die Sprache der Toleranz für seine Zwecke umzudeuten und eine Strategie der Abschottung als Akt kulturellen Respekts zu verkaufen.

Es scheint, als würde Huntington bestimmten Teilen des konservativen Amerika und auch kulturkonservativen Deutschen gerade deswegen so gelegen kommen, weil seine Gedanken so zweideutig und widersprüchlich sind und weil sie uns letztlich mehr über den kulturellen Zustand der USA verraten als über die Kulturen der Welt, denen angeblich ihr Augenmerk gilt.