: Kriegszustände
Der völlig entgrenzte Krieg brach nicht erst am 11. September aus. Die Kriegsmetapher zirkulierte schon vorher ununterbrochen durch den medialen Alltag. Der Ausnahmezustand wurde längst zum Orientierungspunkt politischen Handelns. Will man gehört werden, ist Gewalt effektiver als Dialog
von MARK TERKESSIDIS
Dass der „erste Krieg des 21. Jahrhunderts“ wenig mit den herkömmlichen Vorstellungen von Krieg gemeinsam hat, darüber sind sich alle Kommentatoren einig. Erklärungen, Territorien, Armeen, Ziele – so gut wie alle Bestandteile traditioneller Kriegführung fehlen bei den Anschlägen auf das World Trade Center, das Pentagon und Capitol Hill. Dennoch fahren indessen alle fort, die Ereignisse als Krieg zu bezeichnen, obwohl man sich noch nicht einmal darüber im Klaren ist, wer eigentlich angegriffen wurde – ist es das „Gute“ an sich (Bush), die „gesamte zivilisierte Welt“ (Schröder) oder „Amerika und alles, wofür die westliche Führungsmacht steht“ (Bild). Handelt sich um einen „Angriff, der als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen wurde“, wie Susan Sontag feststellte? Sind die Symbole der kapitalistischen Weltordnung getroffen worden, oder war es schlicht das größte Gebäude von New York? „America‘s New War“ ist die derzeitige Generaldevise der Berichterstattung von CNN. Doch wenn es sich um einen Krieg handelt, dann ist dieser Krieg schlicht allgegenwärtig. „Willkommen am neuen Kriegsschauplatz“, schrieb ein US- Kommentator in diesem Sinne. „Die Mörder sind im Haus. Unsere Sachen sind ihre Waffen.“
Dieser völlig entgrenzte Krieg – ist er tatsächlich erst am 11.September ausgebrochen? Ist die Metapher Krieg nicht schon vorher ununterbrochen durch den medialen Alltag zirkuliert? Fast jeden Tag überboten sich nicht bloß die Boulevardblätter mit Kriegsbildern: Von „Terror-Pollen“ war da die Rede, von „Killer-Viren“, von „Horror-Kids“, von „Reisen in die Hölle“ und “@-Bomben“. Und immer wieder von „heiligen Kriegen“, die angeblich gleich vor der Haustür begannen. Der öffentliche Raum hat sich in der herrschenden Wahrnehmung der letzten zwei Jahrzehnte immer mehr in ein Quasischlachtfeld verwandelt, für dessen Durchquerung ja auch mehr und mehr aufgerüstet wird. Ist es ein Wunder, dass gerade die vermögende Schicht in den letzten Jahren von der Limousine in den Four-Wheel-Drive umgestiegen ist? Die Werbung suggeriert, dass Fahrer solcher Autos sich unentwegt in einer Art urbanem Dschungel bewegen. So zeigt eine laufende Reklame für den „Landrover Freelander V6“ ein über und über mit Schlamm bedecktes Auto vor dem Hintergrund einer kargen braunen Landschaft. Die Überschrift lautet: „Hier draußen ist richtige Tarnung alles“.
Wer in den letzten Jahren einen Blick auf die Wirtschaftspresse geworfen hat, der kann auch hier eine Gesellschaft im „Naturzustand“ entdecken: In der Wirtschaft herrscht offenbar der „Krieg aller gegen alle“. In Capital und ähnlichen Organen dreht sich alles um Firmenangriffe, Produktoffensiven, die Eroberung von Märkten, Kriegszuständen auf dem Arbeitsmarkt, Guerillamarketing, Revolutionen, hartes Aussortieren usw. Die Wirtschaftswoche schaltete vor kurzem eine Anzeige, in der Stoffmuster mit soldatischen Tarnfarben neben solchen mit Nadelstreifen abgebildet waren. Darunter stand: „Was Kämpfer tragen.“ Dieser permanente Kriegszustand in der Arbeitswelt wird ergänzt durch eine schleichende Militarisierung der Freizeit. Wieviel Modestrecken sind in zuletzt veröffentlicht worden, auf denen auf die eine oder andere Weise das Soldatische eine Rolle spielte? Zeitschriften wie Men’s Health oder Fit for Fun fordern entsprechend die Stählung des eigenen Körperpanzers zur Erhöhung der Kampfbereitschaft.
Auf der anderen Seite verwischt sich die Unterscheidung zwischen „Zivilgesellschaft“ und Militär. Es ist nicht nur interessant, wann eine soziale Situation als Krieg beschrieben wird, sondern auch, wann es vermieden wird, offenkundige Gewalthandlungen Krieg zu nennen. Beim Angriff der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien vor zwei Jahren wurde die Vokabel Krieg eher gemieden – „Intervention“, „Einsatz“, „Friedensmission“ lauteten hier die Begriffe. Im seinen damaligen Tagebuchaufzeichnungen mit dem Titel „Wir dürfen nicht wegsehen“ meinte Verteidigungsminister Rudolf Scharping, dass der Einsatz bei der Hochwasserkatastrophe im Oderbruch oder die „humanitären Hilfsleistungen für die Kosovo-Albaner“ gezeigt hätten, dass die Bundeswehr jenseits des Kampfes eine ganz neue Rolle einnehmen würde. Presse und Fernsehen zeigten in diesem Sinne oftmals Bilder von einem Militär, das letztlich agierte wie eine Hilfsorganisation – so wurde die Armee zum Bestandteil der globalen „Zivilgesellschaft“ umdefiniert.
Die Ausweitung der Kriegsmetaphorik korrespondiert zudem mit einer frivolen öffentlichen Zelebrierung von Verletzungen. „Amerika hat heute sein größtes Trauma erlebt“, hieß es am 11. September ununterbrochen. Freilich ist es das Ereignis selbst, welches traumatisierend wirkt – das Trauma bleibt nur als eine Art Narbe. In den Medien konnte das Trauma jedoch tatsächlich erlebt werden: Es wurde bereits kurz danach unendlich oft wiederholt und so in den Status der „unauslöschlichen Ikone“ (Michael Schirner) erhoben. Diese Fixierung der Narbe erzeugt Gefühle der Einzigartigkeit: „Uns“ ist das passiert, und „wir“ werden es nicht vergessen. Die Inszenierung des kollektiven Traumas hilft dabei, sozial auseinanderfallende Bevölkerungen für eine gewisse Zeit zu integrieren und zu mobilisieren. „Ein bleibender nationaler Charakter wird vom Trauma geprägt“, schreibt Francis Fukuyama in der Financial Times und nennt Deutschland und Japan als Beispiele. Insofern hat der Angriff für Fukuyama auch etwas Positives, denn „das kollektive Erlebnis, Opfer zu sein“, erinnert die Amerikaner daran, dass sie Mitglieder derselben Community seien. Tatsächlich war selten so viel national-religiöse Begeisterung aus den Vereinigten Staaten zu hören wie in den letzten Tagen.
Spätestens in den Neunzigerjahren ist der Ausnahmezustand zum Orientierungspunkt politischen Handelns geworden –nicht umsonst erlebte Carl Schmitts Definition des Politischen als Feindbestimmung eine Renaissance. Derweil spielt die Gewalt als Mittel der Interessenvertretung eine immer größere Rolle. Zum einen versuchen die staatlichen Sicherheitsapparate, politische Äußerungen auf Gewalt zu reduzieren, um entsprechend hart reagieren zu können –so geschehen bei den Antiglobalisierungsprotesten in Prag und zuletzt in Genua. Zum anderen signalisiert die Fokussierung auf Gewalt durch Medien und offizielle Politik den unabhängigen Akteuren, dass Gewalt sich lohnt: Weder im Nahen Osten noch in Mazedonien oder Genua hätten die Bewegungen jemals so viel Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie es mit „Dialog“ versucht hätten. Und jetzt? Wie wird den Protesten gegen die Globalisierung demnächst begegnet werden? So lange es keine Politik gibt, die diesen Namen auch verdient, kann die perspektivlose Klaustrophobie von „America’s New War“ die ebenso perspektivlose Gewalt aus diversen Richtungen keineswegs verringern, sondern nur weiter nähren.
Das Einsickern des Krieges in die Eingeweide der Gesellschaft mochte in der westlichen Welt bislang als eine rhetorische Mobilmachung erscheinen – erst die Explosionen in New York und Washington waren, wie Susan Sontag schreibt, der Moment, „an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte“. Das Ereignis hat die „Normalität“ nun offenbar restlos denunziert – die gefährlichen Subjekte „schlafen“ bloß für einige Zeit, „mitten unter uns“. Für viele Menschen am Rande der inneren und äußeren Speckgürtel der westlichen Gesellschaften ist die Aushöhlung jeglicher „Normalität“ und Berechenbarkeit der Zukunft jedoch längst bittere Realität. Während darüber gestritten wird, ob der „Kampf der Kulturen“ Wirklichkeit geworden ist oder nicht, gibt es nicht einmal Lippenbekenntnisse für eine gerechtere Aufteilung des Reichtums in der Welt. „Normalität“ ist jedoch ohne politische Perspektive auf ein anständiges Leben in wirtschaftlicher Hinsicht nicht zu haben – das machen nicht zuletzt die Konflikte auf dem Balkan jeden Tag aufs neue deutlich.
Durch militärische oder quasimilitärische „Feldzüge“ zur Herstellung von Sicherheit wird lediglich mehr Unsicherheit erzeugt. Schon seit geraumer Zeit haben die Staaten im Kampf gegen „Gewalt“ und „Terrorismus“ damit begonnen, selbst einer terroristischen Logik zu folgen. Klandestine Operationen, die Außerkraftsetzung von Bürgerrechten, völkerrechtswidrige Bombardierungen, das Kopieren von terroristischen Anschlägen zur Ausschaltung von mutmaßlichen Terroristen – egal, welche Legitimität bestimmte Maßnahmen in Einzelfällen auch haben mögen, das Ergebnis ist die fortschreitende Zerstörung von „Normalität“ und Sicherheit im Namen von Sicherheit. Wenn diese ausweglose Spirale sich weiterdreht, dann stellt sich die Frage, wie denn jener Krieg eigentlich beendet werden soll – jenen Krieg, der entweder vollkommen verleugnet wird oder als unentrinnbar allgegenwärtig erscheint.
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