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Hinaus aus der Hölle Afghanistan

Brennpunkt Quetta: In der pakistanischen Grenzstadt stranden tausende afghanische Flüchtlinge. Noch schwelen die Konflikte mit den Bewohnern nur

Die afghanischen Flüchtlinge sehen Quetta nicht als ausländische Stadt

aus Quetta BERNHARD ODEHNAL

Es gibt immer einen Weg über die Grenze. Die Straße zwischen den Städten Kandahar in Afghanistan und Quetta in Pakistan ist zwar vom pakistanischen Militär gesperrt worden. Aber die Soldaten sind schlecht bezahlt und drücken für ein paar Rupien beide Augen zu. Und es gibt Schleichwege über die Berge.

„Irgendwie kommen wir immer rüber“, sagt Javed Nasiri, ein groß gewachsener 16-Jähriger, der eben erst in Quetta angekommen ist. In Kandahar hat er Verwandte besucht und ihnen Medikamente gebracht. Die Lage? „Schrecklich. Die Menschen haben Angst vor den amerikanischen Bomben. Alle wollen weg, es gibt keine Lebensmittel mehr.“ Anderseits: die Gerüchte von verlassenen Städten seien falsch, ebenso jene von der Ahnungslosigkeit der Afghanen, die nicht einmal mehr Batterien für ihre Radios hätten: „Viele Menschen leben noch in Kandahar oder Kabul. Sie können ja gar nicht weg. Und alle hören am Abend das afghanische Programm der BBC.“

Nur zwei ausgebaute Straßen führen von Afghanistan ins benachbarte Pakistan: die eine im Norden, von Kabul über den Khyberpass nach Peschawar. Die andere im Süden, von Kandahar über den Khojakpass nach Quetta. 1996 traten über diese Route von Pakistan aus die Taliban ihren Siegeszug an. Viele erhielten ihr ideologisches Rüstzeug in den Religionsschulen Quettas. Innerhalb eines Jahres hatten sie drei Viertel Afghanistans inklusive der Hauptstadt Kabul erobert.

Heute zieht eine Karawane von Flüchtlingen in die andere Richtung, hinaus aus der Hölle Afghanistan. Für die meisten ist am Schlagbaum Endstation. Nur wagemutige Alleingänger wie Javed Nasiri können passieren.

Die Pakistaner haben die Grenze nicht aus Menschenverachtung geschlossen. Zu Recht fürchten sie die Folgen eines neuen Flüchtlingsstroms. Quetta hat fast eine Million Einwohner, die Hälfte von ihnen Flüchtlinge. Die Hauptstadt der Provinz Belutschistan ist laut pakistanischem Reiseführer „eine Grenzstadt ohne Unterhaltung“, umzingelt von bis zu 3.000 Meter hohen, schroffen Felswänden. In dem Talkessel schwelen Konflikte aller Art – mehr als die Stadt vertragen kann: ethnische Konflikte zwischen der Mehrheit der Paschtunen und Minderheiten wie Punjabi, Belutschen oder Hazaren; soziale Konflikte zwischen wohlhabenden Städtern und verarmten Flüchtlingen; religiöse Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Moderaten und Radikalen. Es genzt an ein Wunder, dass es in den vergangenen Jahren nie zu großen Unruhen kam.

Selbst der Aufstand der Islamisten ist in Quetta – wie auch in anderen Städten – ein Schaugefecht geblieben. Beim angekündigten Generalstreik am vergangenen Freitag blieben zwar fast alle Geschäfte geschlossen – aber das bleiben sie in der Islamischen Republik Pakistan an jedem Freitag. Zu den Protesten gegen den drohenden amerikanischen Angriff kamen ein paar tausend Menschen, und die spektakulären Verbrennungen von Bush-Puppen und amerikanischen Fahnen fanden immer nur dort statt, wo gerade die Kameras der internationalen TV-Stationen auftauchten. Das werde alles von der Regierung in Islamabad gesteuert, glaubt eine afghanische Ärztin in Quetta, „sie will sich ihre Kooperation vom Westen bezahlen lassen“.

Die Taliban haben in Quetta ein Konsulat, dessen Türen für Besucher verschlossen sind. Ihre Militärpolizei ist unter den Flüchtlingen gefürchtet. Junge Männer sollen auf offener Straße entführt und hinter die Grenze zum Kriegsdienst verschleppt worden sein. Aber über solche Übergriffe wird in Quetta nur geflüstert. Als ob jeder wüsste, wie sensibel das Gleichgewicht ist, wie leicht eine Gruppe aus ethnischen oder religiösen oder anderen Gründen einen Flächenbrand entzünden könnte.

Dafür brodelt die Gerüchteküche. Die Amerikaner, schreibt eine Zeitung, inspiziere den Flughafen bereits für die Landung ihrer B52-Bomber. Im pakistanischen Luxushotel, weiß ein Afghane, sei inkognito die erste amerikanische Spezialeinheit eingetroffen. In den afghanischen Flüchtlingslagern, berichtet ein Pakistaner, werde schon der Anschluss von Quetta und Peschawar an Afghanistan vorbereitet.

Tatsächlich sehen die afghanischen Flüchtlinge Quetta gar nicht als ausländische Stadt. Kandahar ist mit dem Auto in fünf Stunden erreichbar – schneller als jede pakistanische Stadt. Telefongespräche können zum Ortstarif geführt werden – die Leitungen funktionieren immer noch. Die Taliban hingegen, erklären afghanischen Flüchtlinge, seien die wahren Ausländer: Araber, vom pakistanischen Geheimdienst ausgebildet, um Afghanistan zu unterdrücken. Das afghanische Unglück werde in Pakistan gemacht.

„Wir fühlen uns schon als Fremde in der eigenen Stadt“, beschweren sich die Pakistaner. Die Afghanen hätten alles in der Hand: den großen Basar, die Transportunternehmen. „Wir sollten sie alle sofort hier rausschmeißen“, sagt ein pakistanischer Geschäftsmann, „sonst übernehmen sie die ganze Stadt.“

Am Abend hören in Kabul alle das afghanische Programm der BBC

Zurück nach Afghanistan? Sofort würde er gehen, sagt Abdul Qadir Gilemi, „aber ich kann erst, wenn die Taliban weg sind“. Gilemi gehört zu einem der großen Clans, die einst Afghanistans beherrschten. An der Wand seines Hauses in der Eisenbahnsiedlung von Quetta hängt ein Stammbaum, der bis auf den Propheten Mohammed zurückgeht. Für viele Afghanen ist er ein Heiliger im Exil, bei dem sie Rat suchen. Anfrufe kommen aus Kabul und Kandahar. Die Frage ist immer die gleiche: Sollen wir bleiben oder sollen wir flüchten? Der Nachfahre des Propheten weiß diesmal keine Antwort: „Wenn sie zu tausenden hierher kommen, erleben wir in Quetta eine Tragödie. Wenn sie bleiben, kommen sie vielleicht um.“

Früher hat auch Abdul Gilemi die Taliban unterstützt. „Ich dachte, sie bringen den Frieden.“ Doch die Islamisten wussten genau, wie sie ihre Macht am schnellsten absichern konnten. Sie zerstörten die alte Clan-Struktur und verjagten den Rat der Ältesten. Jetzt will Gilemi vom Exil in Quetta aus diesen Rat, die Jirga, wiederbeleben. Am 15. August fand erstmals eine Versammlung im pakistanischen Peshawar statt. Nur die alten Strukturen, sagt Gilema, könnten Afghanistan einen stabilen Frieden bringen. „Doch dazu brauchen wir die Unterstüzung der internationalen Gemeinschaft“.

Mohammed Nasiri, der Vater des jungen Grenzgängers Javed, kämpfte bis 1984 bei den Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer. Dann floh er nach Quetta. Heute betreibt er von hier aus mit einer karitativen Organisation Schulen in Afghanistan – und grübelt über die Zeit nach dem Sturz der Taliban nach: Viele Afghanen wollen Rache nehmen. Wie kann da ein neuerlicher blutiger Bürgerkrieg verhindert werden? Amerikaner, UNO, Jirga, alles schön und gut, sagt Zarif, aber Afghanistan brauche eine starke Persönlichkeit an der Spitze, die den Frieden garantiere.

Wie Nasiri halten viele Exilafghanen in Quetta die Stunde von Zahir Shah gekommen, des ehemaligen afghanischen Königs, der 1933 als 19-Jähriger den Thron bestieg und 1973 nach einem Putsch ins römische Exil ging. Ein uralter Monarch als Garant für einen neuen Staat? Ein Symbol, sagt Mohammed Nasiri, bis die nächste Generation ans Ruder komme. Sein Sohn Javed studiert in Quetta Englisch, will sich danach ganz in den Dienst seiner Nation stellen. Als was? „Als Präsident“, sagt der junge Afghane voll Überzeugung. Dann überlegt er kurz: „Oder vielleicht doch einfach als guter Mensch.“

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