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Ende eines türkischen Sommers

Sie waren verliebt, er folgte ihr nach Berlin, es wurde geheiratet, doch dann war das große Glück zu Ende. Ali N. stach seinen Schwiegervater tot, die Schwiegermutter nieder. Gestern begann vor dem Landgericht der Prozess um das Familiendrama

Sein verletztes Ehrgefühl könnte ihn zur Tat getrieben, nimmt man an

von KIRSTEN KÜPPERS

Güler N. hat sich einen grellen rosafarbenen Pullover angezogen. Auch der breite Verband um ihr Handgelenk strahlt rosa. Es ist der Tag, an dem ihrem Ehemann der Prozess gemacht wird, und Güler N.s buntes Leuchten steht als stolzer Akt der Selbstbehauptung im Gerichtsaal. Ein Zeichen, das sie sich als Nebenklägerin heute leistet gegenüber der Welt; gegenüber der Richterin; dem Staatsanwalt; gegenüber der zahlreich erschienenen türkischen Verwandtschaft auf den Zuschauerbänken; und vor allem gegenüber der Person auf der Anklagebank: dem 23-jährigen Ali N., dem Mann mit dem Güler seit September vergangenen Jahres verheiratet ist.

Seit gestern muss sich Ali N. vor dem Landgericht für den blutigen Ausgang eines Familienstreits verantworten: den Mord an seinem Schwiegervater, den versuchten Totschlag seiner Schwiegermutter. Und auch seine 18-jährige Frau Güler war an jenem verhängnisvollen Dienstag im März Opfer von N.s Raserei. Der farbige Verband, den sie an ihrem Handgelenk trägt, verdeckt die schweren Schnittverletzungen von damals.

Auslöser für Ali N.s Gewalttaten war ein Streit des jungen Ehepaares gewesen, sagt die Anklage. Der Staatsanwaltschaft zufolge hatte Güler N. ihren Mann nach einer heftigen Auseinandersetzung verlassen und war in die Kreuzberger Wohnung ihrer Eltern geflüchtet. Um sie zurückzuholen, soll Ali N. seine Schwiegereltern zur Rede gestellt haben. Als der Schwiegervater dem Angeklagten erklärte, dass seine Tochter nicht zurückkomme, soll Ali N. unvermittelt ein Messer gezogen und 16 Mal auf den Mann eingestochen haben.

Beim Versuch, ihrem Vater zu helfen, erlitt Güler die Schnittwunde an der Hand. Auch ihre Mutter wurde bei dem verzweifelten Gerangel verletzt. Als die 53-Jährige aus der Wohnung fliehen wollte, soll der Angeklagte ihr gefolgt sein und im Treppenhaus in einem blinden Wahn weiter auf die Frau eingestochen haben. Erst als Nachbarn hinzukamen, soll der Angeklagte von seiner Schwiegermutter abgelassen und geflohen sein. Tage später stellte er sich der Polizei.

Der Hass von Ali N. war an jenem Tag plötzlich über ihn hereingebrochen. Wie der Student sich von seinem Inneren zu den gewaltvollen Handlungen hinreißen ließ, war gestern noch unklar. Die Ermittlungen ergaben, dass verletztes Ehrgefühl ihn getrieben haben könnten, vielleicht auch ein kulturelles Missverstehen. Ali N. lebt erst seit kurzem in Deutschland.

Güler N. hatte den hochgewachsenen Studenten in einem Familienurlaub im warmen türkischen Sommer kennen gelernt, heißt es. Romantische Verliebtheit soll auf die beiden herabgesunken sein. Ali N. habe der jungen Frau hinterhertelefoniert, sei ihr nach Berlin gefolgt, kurz darauf wurde geheiratet.

Er soll seiner Frau den Geschlechtsverkehr verweigert haben, sagen die Akten

Das frische Glück zeigte jedoch bald arge Risse. Ali N. soll seiner Frau den Geschlechtsverkehr verweigert haben, sagen die Akten. Es kam wiederholt zu Streit. Nach einem halben Jahr entschied Güler N. zu ihren Eltern zurückzukehren.

Gestern saß sie ihrem Mann mit erhobenem Kopf im Gerichtssaal gegenüber. Die Selbstständigkeit seiner in Deutschland sozialisierten Frau scheint den nach strengen türkischen Traditionen erzogenen Angeklagten stark gekränkt zu haben; warum er indes nicht mit seiner Frau schlafen wollte, ist nicht bekannt. Nach Verlesung der Anklageschrift hat die Richterin die Öffentlichkeit gestern von der weiteren Verhandlung ausgeschlossen. Die Privatsphäre des Angeklagten müsse geschützt werden, hieß es in der Begründung. Der Prozess wird am 8. Oktober fortgesetzt.

Während einer Verhandlungspause nahm sich vor dem Gerichtsaal ein Mann Zeit, das Mordopfer zu beschreiben. Güler N.s Vater soll in der Kreuzberger Nachbarschaft als höflicher, pflichtbewusster Herr gegolten haben. Als Gastarbeiter der ersten Generation sei er 1971 nach Berlin gekommen. Auf der Straße soll er vor Passanten stets seinen Hut gezogen haben.

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