Über Filz reden . . .

. . . will die Hamburger SPD neuerdings. Auf ihrem außerordentlichen Parteitag gab es kräftig Selbstkritik

HAMBURG taz ■ Die Hamburger SPD hat etwas völlig neues für sich entdeckt: Selbstkritik. Bisher undenkbar in der Partei, die die Hansestadt seit 1957 ununterbrochen regierte. Jetzt ist sie erstmals abgewählt, und ihr noch amtierender Bürgermeister Ortwin Runde sagt auf dem außerordentlichen Landesparteitag Sätze wie: „Ich freue mich, wenn morgen in der Zeitung auch kritische Worte über uns stehen.“

Der 57-jährige Runde, der als Bürgermeister künftig vom CDU-Kandidaten Ole von Beust abgelöst wird, bekräftigte auf dem Parteitag am Freitagabend, dass er sich nicht in den politischen Ruhestand zurückziehen will. „Wir müssen uns beim nächsten Mal Stimmen von denen zurückholen, die diesmal Schill gewählt haben“, forderte er mit Blick auf die Law-and-order-Partei des Amtsrichters Ronald Schill. Dessen Partei Rechtsstaatlicher Offensive hatte bei der Bürgerschaftswahl aus dem Stand 19,4 Prozent erreicht und damit den Regierungswechsel erzwungen. Runde wird als Favorit für den Fraktionsvorsitz seiner Partei in der kommenden Legislaturperiode gehandelt. Mit seiner kämpferischen Parteitagsrede hat er diesen Führungsanspruch untermauert.

Und dann gab es noch eine echte Sensation auf der Versammlung, die die Sozialdemokraten ausgerechnet in der Schill-Hochburg Wilhelmsburg abgehalten haben – hier hat Schill teilweise fast 40 Prozent der Stimmen erobern können. Parteichef und Noch-Innensenator Olaf Scholz nahm das Wort in den Mund, das von Sozialdemokraten jahrzehntelang als Tabu galt: „Wir müssen künftig auch über Filz reden“, verlangte Scholz der Partei ab. Bisher galt in der Hamburger Sozialdemokratie der Grundsatz, den in der Stadt allgegenwärtigen SPD-Filz beharrlich zu leugnen. Auch damit ist es in den nun anbrechenden Oppositionszeiten vorbei.

PETER AHRENS