: Das Nigella-Konzept
Abheben dürfen und dabei angebunden bleiben: Ein Franziskanermönch in Krakau praktiziert seine ganz eigene Form der akzeptierenden Drogenarbeit. Über das Kiffen ohne Schuldgefühle und den sozialverträglichen Rausch – einige alltagsphilosophische Betrachtungen anläßlich einer Reise nach Polen
von SIBYLLE TÖNNIES
Viel spannender als den Piccadilly-Circus und das Rockefeller-Center zusammen finde ich den Marktplatz in Krakau. Man kann dort, jedenfalls im Sommer, wunderbar den ganzen Tag vor einem der Restaurants rund um den riesengroßen Platz sitzen, in dessen Mitte das alte Tuchhaus steht, und das Geschehen an sich vorüber treiben lassen. Da kommt keine Langeweile auf. Es ist eine Freude, die Kreativität der Polen zu erleben (soweit sie sich nicht gerade in einem Trickdiebstahl niederschlägt, was ich leider auch bezeugen kann). Sogar ein Fesselballon stieg auf, als ich das letzte Mal da war, ein uraltes Modell mit einem handgeflochtenen Korb, und darin standen blinde Kinder, die laut aufjauchzten, als sich der Korb vom Boden löste und in die Höhe stieg.
Vor diesem Hintergrund machte ich an einem warmen Sonntagnachmittag eine interessante Bekanntschaft. Ich lernte eine Gruppe junger Polen kennen, die offensichtlich gut gelaunt waren. Ihr Mittelpunkt war ein etwa fünfzigjähriger Franziskanermönch, mit dem ich ins Gespräch kam. Dabei vertraute er mir das Geheimnis seiner Gruppe an. Es verbirgt sich hinter ihrem Namen: Niedziela. Dieses Wort spricht sich Nigella, wenn das G so klingt wie in Gin, und es heißt auf deutsch Sonntag. Sonntags, soll das bedeuten, geben sich die Mitglieder dieser Gruppe einem Vergnügen hin, das sie sich die Woche über verkneifen: dem Haschischgenuss.
In Polen ist dieses Vergnügen von Staats wegen genauso verboten wie in Deutschland, und auch die Kirche ist nicht begeistert von dieser Aktivität ihres Bruders Jan. Aber sie duldet sie. Denn genauso wie in Deutschland hat das Kiffen in Polen Formen angenommen, die weniger schön sind. Bruder Jan sucht nach einem Weg, es zu kanalisieren, es einzuhegen, es durch Ritual zu zähmen.
Er raucht gern selbst mal einen Joint, und er steht damit in seinem Kloster nicht allein. Innerhalb einer kleinen Runde der Minderbrüder ist das Nigella-Konzept entstanden. Dabei fängt der Sonntag, wie der Sabbat bei den Juden, am Sonnabendabend an. Wenn die Glocken von Krakau den Sonntag einläuten, lassen die Jungens im Abendsonnenschein den Joint rumgehen.
Das Marihuana wird ganz hinten an einer warmen Mauer des Klostergartens gezogen. Bruder Jan meint, dass es heute für weite Kreise an die Stelle des Weins getreten ist, dessen Genuss im christlichen Abendland akzeptiert ist und Tradition hat. So, wie sich um das Weintrinken herum eine Kultur entwickelt hat, muss sich nach seiner Ansicht auch um dem Joint herum eine Kultur bilden. „Was haben wir für alte, gepflegte Trinksitten!“, sagt Bruder Jan. „Wir erheben uns, wir wünschen uns Gesundheit, wir blicken uns in die Augen und stoßen die Gläser aneinander. Das Törnen kann auch etwas Form vertragen. Dabei hat der im Kreis umgehende Joint eine schöne Symbolik – wie der Kelch, aus dem gemeinsam getrunken wird. In den Kulturen, aus denen das Cannabis kommt, gab es solche Formen. Wir müssen sie erst entwickeln und uns das Cannabis erst bewusst aneignen.“
Er meint, dass das ein Grund sei, den Haschischkonsum zu legalisieren. „Ich kenne Eltern, die Haschisch rauchen und das vor ihren Kindern verstecken, während diese Kinder selbst heimlich in ihren Buden qualmen. Dabei müssten die Eltern ihnen doch zeigen, wie man mit dieser Droge umgeht! So, wie sie ihnen von Kindesbeinen vormachen, zu welchen Gelegenheiten Alkohol passend ist und zu welchen nicht.“
Die Nigella-Gruppe hat die Klostergrenzen überschritten. Bruder Jan kann sie als Streetwork rechtfertigen. Er trifft sich am Sonnabendabend mit jungen Leute, die sich vom Haschisch nicht auffressen lassen, aber andererseits nicht auf den Rausch und die Gesellschaft mit ihresgleichen verzichten wollen. Er selbst geht abends wieder in sein Kloster, aber die Gruppe bleibt noch zusammen. Bis Sonntagabend um zehn darf man sich gehen lassen. Man kann aber auch zu Hause bleiben oder sich ein eigenes Plätzchen suchen. Der Zusammenhalt ist ganz locker. Das Einzige, was die Gruppe zusammenhält, ist die strikte Einhaltung der Zeiten.
Bruder Jan hat sein Konzept spirituell angereichert. Es ist die alte Sonntag-Idee, die dahinter steht, sagt er. Wer die Woche über seine Pflicht getan hat, soll sich am Sonntag entspannen dürfen. Das Vorbild ist Gottvater persönlich, der am siebenten Tag, froh über seine Schöpfung, geruht hat. An diesem Tag soll man alles so lassen, wie es ist, auch sich selbst. Keine Askese, sondern freundliche Nachgiebigkeit gegenüber den eigenen Bedürfnissen. Kiffen ohne Schuldgefühl.
Auch bei Alkoholikern, habe ich mir inzwischen sagen lassen, ist die Devise nicht mehr unangefochten, dass im Falle von Sucht nur völlige Trockenheit hilft. Es soll dort Fälle geben, in denen ein eingehegter Alkoholkonsum bessere Wirkungen tut als die totale Askese. Wie dem auch sei – mich überzeugt, dass man zu Haschisch nicht entweder Ja oder Nein sagen muss, sondern zu kultivierten Formen kommen kann. Voraussetzung ist, dass über das Thema offen geredet werden kann.
Mittlerweile ist eine Elterngeneration herangewachsen, die seit dreißig Jahren Erfahrungen im Umgang mit Cannabis und inzwischen selbst Kinder hat, die gern mal high sind. Warum sollen sie den Rausch nicht ab und zu mit ihren Kindern teilen? Wie viele Probleme lassen sich auf diese Weise entspannt lösen. Oder Lehrer mit ihren erwachsenen Schülern, Professoren mit ihren Studenten. Wenn gleichzeitig die Grenzen des Vergnügens abgesteckt werden, ist dagegen nichts einzuwenden.
Ich betrachte den Fesselballon in Krakau als Symbol für das Nigella-Konzept. Abheben dürfen, aber angebunden bleiben. Die Last des Alltags vergessen dürfen, aber wieder auf den Boden zurückkommen.
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