: Kriegsangst in den Achtzigern
Die Welt war sehr endlich: Man klebte Friedenstauben an die Fenster des Klassenzimmers und übte eifrig Sirenentöne
Ich saß mit Susanne am Küchentisch, als wir erfuhren, dass die amerikanischen Bomben auf Afghanistan fielen. Draußen war es bereits dunkel, es regnete. Wir setzten uns vor den Fernseher, schalteten zwischen den Sendern hin und her und unterhielten uns dabei über unsere Kindheit in den Achtzigern.
Wir dachten daran, dass wir manchmal nachts nicht schlafen konnten, Susanne irgendwo im Westen und ich im Osten,weil wir glaubten, dass der dritte Weltkrieg vor der Haustür steht. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, da bekam ich nachts oft dieselbe Angst. Ich war fest davon überzeugt, dass vielleicht am darauffolgenden Wochenende alles vorbei sei, dass die Amis ihre „Pershing- II-Raketen“ losschickten, und die „Russen“, wie meine Mutter zu Hause mit vorgehaltener Hand sagte, mit einer Atombombe antworteten. Wenn der Sonntag im hellstem Sonnenschein vorüberging und ich mit meiner Freundin Heike den Nachmittag über Seilspringen und Gummitwist spielte, ohne dass sich der Himmel verdunkelte, dann war ich am Abend oft ganz erleichtert. Und da ich ein sehr gläubiges Kind war und allabendlich darum betete, dass es nicht zum Krieg kommen darf, glaubte ich, dass Gott meine Gebete erhört hatte.
In der Schule sagten meine Lehrer, wenn es zu einem Krieg komme, dann werde es ein Atomkrieg sein, einer, der alles auslöscht und nichts mehr stehen läßt. Ich hatte eine genaue Vorstellung von einem Atomkrieg, weil ich den Atompilz auf den Bildern von der Wandzeitung her kannte, diese Staubwolke, die sich in der Nacht für mich zu einer schrecklichen Fratze verzerrte.
Die Amerikaner hätten ganz viele Atombomben, sagten die Lehrer, und würden die Sowjetunion zu einem „Wettrüsten“ zwingen. Die Erde sei ein einziges „Pulverfass“. Es gäbe so viele Bomben, dass sie mehr als einmal vollkommen zerstört werden könnte. Da müsste ein Verantwortlicher, so sprachen die Lehrer mit belegter Stimme weiter, aus Versehen nur auf den „Knopf drücken“, und alles wäre vorbei. Alles. Vielleicht drehte einer durch, bangten meine Freundin Heike und ich. Dieser Knopf, der auf jeden Fall rot war, wurde zu einer fixen Idee. Was ist, wenn einer mit der Hand ausrutscht, wenn einer ganz böse ist wie in den Agentenfilmen? Ich schrieb in mein Tagebuch: „Die Lage in der Welt spitzt sich zu. Alles hofft auf die Politiker. Aber diese sind auch nur Menschen, die Fehler machen können.“ Heike dachte an Hiroschima und hegte die Hoffnung, dass eine Atombombe doch nicht die ganze Erde zerstören würde, dass wir vielleicht Glück haben könnten. Denn Hiroschima war weit weit weg.
Jeden Mittwoch um eins heulten die Sirenen. Das war nur ein Übungstest, um die Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Im Unterricht klebten wir Friedenstauben auf die Fenster des Klassenzimmers, malten Soldaten, denen kleine Mädchen mit blauen Pionierhalstüchern Blumen überreichten und packten an Weihnachten den Soldaten, die unser Land beschützen sollten, Pakete mit Wollstrümpfen, Keksen und Nüssen. Wir hörten uns auf einer Schallplatte die verschiedenen Sirenentöne an: für den Fall, dass Bomben auf unsere Stadt fallen oder mit chemische Waffen angegriffen werden würde. Es gab aber auch eine bestimmte Tonfolge für Katastrophen. Ganz angestrengt, aber erfolglos versuchte ich, mir die unterschiedlichen Töne einzuprägen, damit ich im Gefahrenfall auch wisse, was los sei. Die Welt als Kind Mitte der Achtziger war sehr, sehr endlich.
CHRISTIANE BREITHAUPT
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