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: Lesenächte im Großstadt-Club: Asphaltpoeten im Kampf mit dem Echten, Absurden, Hässlichen

Guck mal, der Ahne ist Dichter

Im Augenblick kann man sich vor aktuellen Anlässen kaum retten. Das gilt sogar für solch feuilletonistisch-caritativen Marginalien wie die Hörhilfe: Nach dem 11. September häuften sich die Gegenstände dermaßen, dass eine Art Entscheidungsnotstand ausgerufen werden musste. Nicht nur, dass im Schatten der terrorüberschatteten Buchmesse eine Fülle von Hörbüchern neu erschienen sind – gerne hätte man beispielsweise potenziellen Hörerinnen und Hörern einmal explizit mit einem interpretierenden Hinweis auf die mitternachts via Deutschlandfunk gesendete Nationalhymne pragmatischen Seelenbeistand geleistet. Auch wenn dieser Funkbeitrag „zum Tagesausklang“ seit der Erfindung des Radios schöne Sitte ist, besteht doch Grund zur Annahme, dass sich in Krisenzeiten Trommelfelle und Herzen weiten und der nationalkulturellen Rezeption neue Höhen und Tiefen erschlossen werden können.

Vielleicht empfiehlt sich aber gerade in großformatigen Kulturendkampfären der Griff zum kleinformatigen Lokalpatriotismus: „Asphaltpoeten. Club-Literatur aus der Großstadt“ – gemeint ist Berlin – „eine live-cd“. Solcherart Kulturprodukt will natürlich record-released werden, im Kalkscheunen-Lokal hinterm Friedrichstadtpalast, zweifelsohne einem Großstadt-Club. „Ich fass es nicht, da sitzen ja schon wieder nur Männer“, sagt eine Freundin und meint die sechs Typen auf dem Podium, durch gepflegte Rauchschwaden nur schemenhaft zu erahnen. Später behauptet eine andere: „Frauen würden sich so was nicht trauen.“ So was?

Eine lose Gruppe männlicher, erwachsener Berliner hat in den vergangenen Jahren ihre urbane Berufung gefunden. An fast aller Werktage Abend treffen sie sich – durchaus in wochenrhythmischer Regelmäßigkeit – in verschiedenen Lokalitäten und Formationen im Großraum Mitte, um dem kneipierenden Publikum kostenlos selbst geschriebene Texte vorzutragen. Der eigene Anspruch ist dabei bewusst so flach gehalten, dass auf fast allen Schwundstufen des Freizeitalkoholismus dem zu Gehör gebrachten Folge geleistet werden kann. Es geht um alles, was einen so alltäglich angeht oder am Arsch vorbei: um den Inder in der O-Straße, die Mobilfunkseuche, „Als ich einmal im Tierpark war“.

Ähnlich der Harald Schmidt Show inspirieren sich die Asphaltpoeten an Fernsehnachrichten und Bild-Schlagzeilen, halten ihre Beiträge angenehm kurz und bevorzugen einen satirisch-kabarettistischen Gestus. Unähnlich der Harald Schmidt Show bekennen sie sich allerdings zur körpereigenen Hässlichkeit, zum „Kampf gegen die Lohnarbeit“ und der damit engst verbundenen linksalternativen Subkultur. Auch mit Poetry Slams haben die Lesenächte wenig zu tun, denn wenigstens offiziell treten die Männerfreunde nicht in Wettstreit. Am Ende einer verlesenen Nacht sind alle Beteiligten dem Nirwana nahe; die (oft noch altertümelnd handschriftlich verfassten) Texte können getrost im Papierkorb landen oder in einem abgeschabten Leitz-Ordner auf ihre Wiederentdeckung durch die Urenkelschaft warten: „Guck mal, der Ahne war Dichter!“ Eine Errungenschaft, die Reinhard Mohr im Spiegel als „einen sichtbaren Aufstand des Echten, Absurden, Hässlichen gegen die leer drehende Hochglanzwelt der Medienvirtualität“ zu würdigen wusste.

Bislang widerstrebten also die Surfpoeten und Reformbühnler auf vorbildliche Weise der Kommerzialisierung ihrer Alltags- und Wegwerfprosa, obwohl die Stammpublika begeistert waren und das Medienecho laut sympathisierte. Mit der Verlabelung der „Asphaltpoeten“ knüpfen sie nun allerdings tatsächlich an Historisches an, feiern ungebrochen das minder populäre Revival einer Tradition der Moderne: Eckensteher, Straßendichter, lumpenproletarische Schriftsteller gehörten zum intellektuellen Bodensatz des Kapitalismus, der seine Produktionsweise explizit vom „System“ erzwungen sah, als Survival-Writing gewissermaßen, und häufig auch literarisch reflektierte. Der immer noch unbekannte brandenburgische Expressionist Paul Gurk ist dafür ein schönes Beispiel. Bis heute jubilieren Walter-Benjaministen und andere marxistische Literaturwissenschaftler, wenn sie das auf den freien Markt geworfene Genie am Text dingfest machen und mit einer Baudelaire-Fußnote knebeln können.

Entprechend zwiespältig ist die CD. Einerseits taugt der mündliche Bühnenvortrag wie kein anderer zur Verhörbuchung, andererseits markiert diese aber auch sein Ende. Es fehlt all das Wesentliche, von der Geräuschkulisse über den Anblick des echt absurd Hässlichen bis hin zum kollektiv genossenen Getränk. Zudem hat Herausgeber Ulf Geyersbach augenscheinlich versucht, nicht die einfach lustigsten (ist gleich: erfolgreichsten) Beiträge auszuwählen, sondern künstlerische Bandbreite zu ermitteln – etwa vom stilsicheren Schachtelsatzfetischmus (Bov Bjerg) bis zur sprachlichen Dürre der Humoristen Ahne und Spider. Aber vielleicht wird man die sowieso erst in fernerer Zukunft zu deuten wissen. Das orale Material ist ja nunmehr konserviert. EVA BEHRENDT

Ulf Geyersbach (Hg.): „Asphaltpoeten. Club-Literatur aus der Großstadt“. Kein & Aber Records, Zürich 2001, 32 DM