: Die Warlords
von BERNARD IMHASLY
Seit einigen Wochen gibt sich die „Nordallianz“, der Zusammenschluss der militärischen Anti-Taliban-Gruppen im Norden Afghanistans, als „Vereinigte Front“ aus. Dies hat auch mit der erhöhten Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu tun, die ihr seit dem 11. September zukommt und sie zu einem begehrten Partner der Anti-Taliban-Allianz macht. Der Name ist nicht neu. Bereits als die Allianz vor vier Jahren gegründet wurde, nannte sie sich „Vereinigte Islamische Front für die Rettung Afghanistans“.
Doch die Vereinigte Front war seit ihrer Gründung weder eine Front, noch war diese vereinigt. Ihre fünf Mitglieder hatten eine Geschichte hinter sich, deren einzige Gemeinsamkeit war, dass jedes einmal gegen jedes andere gekämpft hatte. Ihre Hochburgen lagen in verschiedenen Regionen, und sie vertraten zum Teil verschiedene, zum Teil dieselben – und miteinander wetteifernden – religiösen und ethnischen Gruppen.
Brüchig von Anfang an
Statt der Bezeichnung „Vereinigte Front“ war bald der Name „Nordallianz“ zur Stelle. Allianz kam der Wirklichkeit näher, denn die Gruppen forderten von Anfang die Beibehaltung ihrer bisherigen Operationsräume, ohne militärische und administrative Kompetenzen in die gemeinsame Struktur einzubringen. Auch die geografische Bezeichnung war eine Anerkennung der Realität: Die Taliban hatten bereits ein Jahr nach der Eroberung Kabuls ihre Gegner aus dem zentralen und westlichen Afghanistan in den Norden zurückgedrängt.
Es war im nordafghanischen Mazar e-Sharif, dass die Vereinigte Front am 4. Juni 1997 gegründet wurde. Ihr erster Vorsitzender war General Abdul Malek, der Führer der usbekischen Jumbesh-Miliz. Beide Namen sind nicht nur Beweis der regionalen Randstellung der neuen Allianz. Der erste Vorsitzende und der Gründungsort zeigen auch, wie brüchig sie von Anfang an war.
Zwei Wochen zuvor war noch General Raschid Dostam der Chef der „Jumbesh“ gewesen, und Malek sein „Außenminister“. Am 19. zwang Malek nach einer Palastrevolte Dostam zur Flucht in die Türkei, und wechselte mit seinen Milizen zu den Taliban über. Er verriet dabei auch Ismael Khan, den Guerilla-Kommandanten aus der Provinz Herat, und lieferte diesen und 2.000 seiner Kämpfer den Taliban als Gefangene aus. Der Weg nach Mazar war für die Taliban damit offen; eine Woche später besetzten sie kampflos die wichtigste Stadt des Nordens.
Doch kaum hatten sie sich eingerichtet, wandten die neuen Bundesgenossen ihre Waffen gegen die Taliban und richteten ein Blutbad an. Rund 10.000 Taliban-Kämpfer gerieten in Gefangenschaft. Ein halbes Jahr später wurden bei der Stadt Shiberghan westlich von Mazar Massengräber mit den sterblichen Überresten von rund 2.000 Taliban-Angehörigen gefunden, was von der Weltöffentlichkeit in ihrer Anti-Taliban-Obsession kaum wahrgenommen wurde.
Verrat als Gewohnheit
Eine Woche nach dem Massaker sah sich Malek für seinen doppelten Frontwechsel belohnt: Er wurde zum Ersten Vorsitzenden der Vereinigten Front gewählt. Wie künstlich diese Front war, zeigt, dass ausgerechnet die wichtigste Gruppierung, der „Jamiat Islami“, die Partei von Ismael Khan war. Khan wiederum saß wegen Maleks Verrat zwei Jahre in Taliban-Haft in Kandahar. 1999 gelang ihm die Flucht – und er schloss sich erneut der Nordallianz an. Malek war inzwischen wieder durch seinen alten Mentor Raschid Dostam ersetzt.
Ismael Khan vertritt im Jamiat die persisch sprechenden Stämme aus dem westlichen Afghanistan und bildet eine weitgehend autonome Faktion. Denn eigentlich wird die Partei von sunnitischen Tadschiken beherrscht. Der Jamiat Islami war 1971 in Kabul als gemäßigte islamische Partei der städtischen Tadschiken gegründet worden. Sowohl ihr Präsident, der in Kairo ausgebildete Religionslehrer Burhanuddin Rabbani, wie ihr späterer Verteidigungschef Ahmed Schah Massud, waren Kabul-Intellektuelle gewesen, bevor sie der Krieg gegen die sowjetische Besatzung in „Mudschaheddin“ verwandelt hatte. Erst der Krieg hatte sie in ihre Heimatregionen zurückkehren und die ethnischen Bindungen neu knüpfen lassen. Badakschan, die Heimat Rabbanis, und das Panschir-Tal Massuds wurden dann die Hochburgen des Jamiat und sind es bis heute geblieben.
Wichtigster Bundesgenosse des Jamiat – und sein erbitterter Konkurrent – war die „Jumbesh“-Miliz. Ihren Kern bilden die Usbeken-Regimenter aus der Armee der alten kommunistischen Regierung. Bis 1992 hatte deren Chef, General Raschid Dostam, dieser Regierung das Überleben garantiert. Doch als die Mudschaheddin vor den Toren Kabuls standen und Präsident Najibullah am 17. April 1992 fliehen wollte, wurde er von Dostams Truppen auf dem Weg zum Flughafen abgefangen. Von da an wurde der ehemalige General zu einem Mitspieler um den Thron von Kabul – zuerst als Anhänger von Rabbani und Massud gegen deren Rivalen Gulbuddin Hekmatjar, später als dessen Verbündeter. Die Artillerie der beiden im Bergkranz um Kabul legte zwischen 1994 und 1996 die Stadt in Schutt und Asche.
Als dann Ende September plötzlich die Taliban vor Kabul standen und Massud mit seinen Truppen die Hauptstadt verließ, zog auch Dostam es vor, sich in seine Stammlande zurückzuziehen. Er erklärte Mazar e-Sharif zur Haupstadt eines unabhängigen Nordafghanistan, fuhr mit einem amerikanischen Staßenkreuzer über die löchrigen Straßen seiner Republik und hielt in einer mittelalterlich anmutenden Festung Hof – bis ihn sein „Außenminister“ Malek für kurze Zeit ins Ausland verbannte.
Gegenseitiges Gemetzel
Zur Vereinigten Front gehören auch die zwei Faktionen der „Hezbe Wahdat“, die 1989 auf Initiative Irans als Zusammenschluss von acht schiitischen Parteien gegründet worden war. Ihr Operationsgebiet ist die zentralafghanische Region des Hazarajat, das Siedlungsgebiet der mongolischstämmigen Hazaras. Auch die Wahdat schaut auf tief greifende Konflikte mit seinen Bundesgenossen zurück. Zwischen 1994 und 1996, als sich die Hazara-Truppen und jene von Massud und von Rasul Sayyaf die Plünderung Kabuls streitig machten, kam es zu wahren gegenseitigen Gemetzeln – ungeachtet der Bomben, die gleichzeitig aus den Kanonen Hekmatjars und Dostams auf die ganze Stadt niederregneten. Nach dem Tod ihres Führers A. A. Mazari zerbrach die Partei in zwei Faktionen, von denen jene von Karim Khalili die weitaus bedeutendere ist. Die fünfte Partei in der Vereinigten Front war die „Ittehad Islami“ von Rasul Sayyaf, eine Sunniten-Partei, deren radikale antischiitsche Agenda ihr Gewicht in der Allianz von Anfang beschränkte.
Selbst die gemeinsame Gegnerschaft zu den Taliban hätte nicht genügt, um diese verfeindeten Guerillas unter den Hut einer gemeinsamen Front zu bringen. Es war die internationale Politik, die dies schließlich fertig brachte. Am 25. Mai 1997, zehn Tage vor Gründung der Vereinigten Front, hatte Pakistan als erster Staat die Taliban diplomatisch anerkannt. Es folgten am Tag darauf Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Iran, der regionale Rivale Saudi-Arabiens und Pakistans, setzte darauf alles daran, die Taliban-Gegner zusammenzubringen. Die Vereinigte Front sollte den Anspruch auf legitime und legale Vertretung des ganzen Landes geltend machen. Zwei Monate nach ihrer Gründung setzte die Front eine Regierung unter Burhanuddin Rabbani ein, mit Abdul Ghafoorzai als Premierminister, Malek wiederum als Außen- und Massud als Verteidigungsminister. Ihr Territorialbesitz blieb gering, und selbst in ihrem Hoheitsgebiet gelang es ihr nie, übergreifende administrative Strukturen zu schaffen. Dennoch hielt die Weltgemeinschaft an ihr als legitimer Vertretung von ganz Afghanistan fest.
Kunst des Überlebens
Dieser völkerrechtliche Schutz und die Militärhilfe, die unter dessen Mantel an die Nordallianz floss, waren während der vergangenen vier Jahre ihre wichtigsten Überlebenshilfen. Das gegenseitige Misstrauen ihrer Anführer ließ nur einen geringen Grad an militärischer Koordination zu. Sie blieben weitgehend in der Defensive, geschwächt nicht nur durch innere Rivalitäten, sondern auch durch zahlreiche kleinräumigere Spannungen zwischen Clans und unabhängigen Kommandanten, die nicht selten mit der Beherrschung strategischer Pässe, Verkehrsknoten und Straßen zusammenhingen.
Sie führten dazu, dass die Taliban in ihren jährlichen Offensiven mehrmals nahe daran waren, die Allianz zu zerschlagen. Dass sie dennoch an ihren regionalen Flecken festhalten konnte, verdankt sie mehreren Faktoren. Einmal hielt die Unterstützung aus Tadschikistan und Usbekistan – beziehungsweise aus Iran und Russland – die Versorgung mit Waffen aufrecht. Ein weiterer Grund war die ethnische Homogenität besonders im abgelegenen Nordosten des Landes. Schließlich war es das militärische Genie von Ahmed Schah Massud, dem es mit dem taktischen Abzug aus Kabul 1996 gelungen war, sein Militärgerät ins Panschir-Tal zu retten. Von hier aus war er eine ständige Gefährdung für das Herz der Macht, Kabul.
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