: Die Oberretter bitten zum Training
Otto Schily zeigt ein Satellitenwarnsystem. Zivilschützer Baumgarten zeigt eine Mag-Lite. So eine Lampe – und ein verqualmtes Haus ist kein Hindernis
aus Berlin STEFAN KUZMANY
Seit Bomben und Giftgas drohen, klingelt bei Jan Baumgarten das Telefon öfter als sonst. Letzte Woche waren es 35 besorgte Bürger, die von ihm und seiner „Gesellschaft für den Zivilschutz in Berlin e. V.“ Rat wollten. Meist ging es um Gasmasken: Schützen sie überhaupt? Wo kriege ich noch welche her? Wie benutze ich sie? Für Baumgarten sind alle diese Fragen nicht neu. Denn er und sein Verein bereiten sich nicht erst seit dem 11. September auf den Ernstfall vor.
Und nicht erst seit dem 11. September kann der Verein auf seinem Übungsgelände in Berlin-Buch Selbstschutzkurse anbieten. Ob da auch ein Journalist teilnehmen kann? Aber natürlich, sagt Baumgarten am Telefon. Am nächsten Tag ruft er an. „Wir haben alle Kurse gecancelt. Aufgrund der Lage.“ Die Lage? Terrordrohungen? Wird die Schutzzentrale für Wichtigeres gebraucht?
Wie die Lage ist, erschließt sich bei einem Besuch auf dem Gelände der Zivilschützer. Jan Baumgarten sitzt an einem verschrammten Küchentisch. Um den Tisch stehen Polsterstühle, die so durchgesessen sind, dass man einsinkt. Er ist 29 Jahre alt, ein kleiner, kräftiger Mann mit Bart und wachen Augen. Wenn man sich in seinem rührigen Vereinsheim umschaut mit den Stichen von historischen Feuerwehrmotiven an den Wänden, dann bekommt man einen Eindruck, welchen Stellenwert der Katastrophenschutz und seine Protagonisten in Deutschland noch haben.
Entsprechend ahnungslos sind auch die Menschen, die bei Baumgarten anrufen. Seine erste Frage sei immer dieselbe: „Wann haben Sie ihren letzten Erste-Hilfe-Kurs gemacht?“ Und darauf wüsste schon niemand mehr eine Antwort. Doch die erste Hilfe sei die wichtigste Voraussetzung. Danach könne, wer wolle, gerne einen Selbstschutz-Grundlehrgang belegen. Nach dem 11. September hat der Vorstand Konsequenzen gezogen und beschlossen, den Selbstkostenbeitrag für einen Lehrgang auf 50 Mark festzusetzen. Wenn’s ein paar mehr Teilnehmer werden, verspricht Baumgarten, dann werde das auch günstiger.
Die Lage ist nur so, dass es eher ein paar weniger sind. Die Menschen sind zwar besorgt, aber für ein Training hat sich niemand angemeldet. Obwohl das nur einen Tag dauern würde. Und deshalb finden bis auf weiteres keine Kurse in Buch statt. Stattdessen hat Jan Baumgarten einige Broschüren anzubieten, in denen die Kontaktadressen noch vierstellige Postleitzahlen haben, herausgegeben vom Bundesverband für den Zivilschutz, den es nicht mehr gibt, gefördert vom Bundesamt für den Zivilschutz, das mit Inkrafttreten des Haushaltssanierungsgesetzes vom 22. Dezember 1999 aufgelöst worden ist. Seine Aufgaben nimmt nun das Bundesverwaltungsamt wahr. Im Bundeshaushalt 2002 sind für den Zivilschutz 86 Millionen Mark vorgesehen, das ist die Hälfte des Etats von 1993. Die „Gesellschaft für den Zivilschutz in Berlin e. V.“ wird seit 1994 staatlich nicht mehr gefördert.
Baumgarten sitzt in seinem Blaumann da und empfielt die „Mag-Lite“-Minitaschenlampe: „Die können Sie auch fallen lassen, und sie funktioniert immer noch.“ So eine Lampe am Gürtel, und ein verqualmtes Treppenhaus ist kein unüberwindbares Hindernis mehr. Baumgarten hat die seine immer dabei. Für heiklere Situationen hat er eine größere Variante. Mit der 40-Zentimeter-Mag-Lite habe er einmal einen Bruch geschient.
Auch einen kleinen roten Beutel mit Verbandsmaterial hat er umgeschnallt, um schnell helfen zu können. Seit 1997 ist er beim Katastrophenschutz. Neben seinem Beruf als „Haus-, Hof- und Gartenarbeiter“ in einem Krankenhaus verbringt er 1.500 Stunden im Jahr mit ehrenamtlicher Arbeit. In einem Zimmer neben der Küche hat Baumgarten sein Büro: eine winzige, finstere Stube, der Schreibtisch steht inmitten von Kisten voller Broschüren, Unterrichtsmaterial, Verbandsköfferchen und Blechspinden. „Das teile ich mir mit dem Fahrzeugverantwortlichen und dem Erste-Hilfe-Verantwortlichen.“
Hinter der nächsten Tür: noch mehr Blechspinde, darauf liegen gepackte Bundeswehrrucksäcke zum schnellen Ausrücken. Ausrücken, sagt der Zivilschützer, würden er und seine „Kameraden“, wenn „Schutzräume mit Bürgern befüllt“ würden und kompetentes Personal zur Stelle sein müsse. Schon jetzt hält der Verein ein Dutzend der Berliner Schutzbunker technisch in Schuss.
Rundgang über das Gelände. Hier wurde in der DDR der Zivilschutz geprobt – es war die Vorbereitung auf einen Angriff des Klassenfeindes, genauso wie der Zivilschutz in der Bundesrepublik die Bevölkerung gegen die Bedrohung durch die Rote Armee wappnen sollte. Im ehemaligen Hausmeisterbungalow haben die Gesellschafter einen Ausbildungsraum eingerichtet: Die Stühle kommen aus amerikanischen Armeebeständen, die Tafel konnte eine Schule nicht mehr gebrauchen, die Lampen hat ein Kamerad organisiert. Baumgarten achtet immer auf Bauarbeiten. Wenn er sieht, dass irgendwo etwas Brauchbares abgebaut wird, wie kürzlich Pissoirs und Waschbecken, dann geht er zu den Handwerkern: „Baut die mir ordentlich aus. Stellt sie ordentlich ab. Wir – holen – die – ab.“
Baumgarten spricht immer so. Kurze, einfache Sätze. Sehr beruhigend. Es sind so einfache Regeln, die man befolgen sollte, um sicherer zu leben. Immer wissen, wo die Taschenlampe ist. Einen ordentlichen Verbandskasten haben und damit umgehen können. Ausreichend Lebensmittel für zwei Wochen vorrätig haben, für den Fall, dass die Versorgung einmal zusammenbricht. So einfache Regeln. Deshalb missbilligt Baumgarten ihm unverständliche Nachlässigkeiten seiner Mitmenschen. Dann sagt er „Hallo?“, als spreche er einen Verletzten an, als wolle er einen Ohnmächtigen wieder zu Bewusstsein bringen: „Sie kennen doch die Bilder von Hochhausbränden, wo dann Bewohner mitten in der Nacht im Schlafanzug auf der Straße stehen. Hallo? Ha – lo? Warum können die Leute nicht einfach ein Notgepäck vorbereitet haben?“ Das müssten doch nicht die besten Sachen sein, ein Trainingsanzug, ein Paar Schuhe, eine Thermoskanne, viel mehr brauche man doch gar nicht. Hallo? Na also.
Für das angrenzende Übungsgelände bekommen die Zivilschützer bei Bedarf den Schlüssel von der Berliner Feuerwehr. Büsche wuchern hier über die Attrappe einer Straße, links und rechts zweistöckige Häuser ohne Dach. An dem Ruß sieht man, dass sie schon oft angezündet und wieder gelöscht worden sind. Zu DDR-Zeiten seien die alle möbliert und beheizt gewesen, da habe man noch viel realistischer üben können. Heute gibt es keine einzige Fensterscheibe mehr. In einer der Häuserattrappen befindet sich eine „simulierte Bunkeranlage“, ein unbeleuchteter Raum. Baumgarten bringt seine „Mag-Lite“ zum Einsatz. Holzpritschen, ein Verschlag in der Ecke: der „Abortbereich“. Am Boden liegt eine Pistole. Keine Terroristenwaffe, sondern eine Spielzeugpistole, die vermutlich Kinder vergessen haben. Jan Baumgarten stellt sie sicher. Im Nebenraum ist ein Modell des Belüftungssystems, das ständig einen leichten Überdruck im Bunker erzeugen soll, um schädliche Gase draußen zu halten, handkurbelbetrieben, autark. Im Ernstfall weiß Jan Baumgarten, wo die Lüftungsklappen sind und wie sie funktionieren, und er kann den Bürgern auch sagen, wie schnell sie kurbeln müssen, um zu überleben.
Das größte Gebäude könnte sozusagen das Prunkstück sein: „Im Keller befindet sich noch eine Beschallungsanlage.“ Früher sei an jedem Laternenmast, an jedem Gebäude, „in jedem Baum“, sagt Baumgarten, ein Lautsprecher angebracht gewesen. Hilferufe konnten damit eingespielt werden, die Geräusche von nahenden Panzern und Luftangriffen, der Krieg. Zur Übung der psychischen Belastung. Irgendwann einmal, schwärmt Baumgarten, könnte man die Anlage wieder in Betrieb nehmen. Er hofft, dass der Verein jetzt vom Land gefördert wird.
Die Chancen stehen nicht schlecht, denn inzwischen interessieren sich auch die Politiker wieder für den Zivilschutz. Anfang der Woche konnte Bundesinnenminister Otto Schily ein satellitengestütztes Frühwarnsystem vorzeigen, das Katastrophenwarnungen innerhalb von 20 Sekunden flächendeckend weiterleitet.
Zurück in der Vereinsküche. „Was nützen alle Werbebroschüren, wenn niemand kommen will?“, seufzt Baumgarten. Viel mehr als Geld fehlten aktive Mitglieder. Es könne vielleicht nicht jeder in seine Fußstapfen treten. Aber es sei doch schon genug, wenn man Kaffee kocht für die Helfer oder eine Bockwurst aufbrüht. „Man muss nicht der Oberretter sein. Ein Held ist jeder, der hilft.“
Weil Baumgarten es so wichtig ist, dass sich mehr Menschen beim Zivilschutz engagieren, gibt er sogar seine Handynummer an die Zeitung. Unter (01 77) 7 15 33 71 stehe er für Fragen zur Verfügung – aber nur von „siebzehnhundert bis zwanzighundert“. Danach will er in Ruhe gelassen werden, nochmal den Nothilfeparagrafen der brandenburgischen Landesverfassung studieren. Oder das Bundes-Seuchengesetz.
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