Zentrum des Genua-Effekts

Attac, der größte Zusammenschluss deutscher Globalisierungkritiker, operiert aus der Enge der Provinzstadt Verden heraus

aus Verden HEIKE HARHOFF

Der Diplom-Biologe Christoph Bautz, 28, hat seinen Job beim Naturschutzzentrum Darmstadt aufgegeben. Der Physiker Oliver Moldenhauer, 30, seine Doktorandenstelle am Institut für Klimafolgenforschung in Potsdam verlassen. Der Politologe Felix Kolb, 31, seine Forschungsarbeit in den USA und seine Dissertation an der Freien Universität Berlin vorübergehend auf Eis gelegt.

Sie haben ihre Karrieren gegen Verden getauscht. Verden an der Aller. 27.000 Einwohner zwischen Hannover und Bremen. Einfamilienhäuser, gepflegte Vorgärten, geharkte Wege. CDU und FDP haben die Kommunalwahlen im September gewonnen. „Eine der wichtigsten Attraktionen“, verkündet die städtische Homepage, sei das Deutsche Pferdemuseum. Der schnellste Zug, um von hier wegzukommen, ist der Interregio.

Aber Christoph Bautz, Oliver Moldenhauer und Felix Kolb zieht es nicht fort. Alle drei sagen, sie seien „bewusst“ nach Verden gekommen: um ehrenamtlich die Deutschlandzentrale eines Netzwerks aufzubauen, das sich „für eine solidarische Weltwirtschaft und gegen neoliberale Globalisierung“ einsetzt. In Frankreich existiert das Netzwerk schon seit 1998 unter dem sperrigen Namen „Association pour une Taxation des Transactions financières pour l‘Aide aux Citoyens“, kurz Attac. Der Name klingt ausgeschrieben auch in der deutschen Übersetzung nicht gerade sexy: Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zur Hilfe der Bürger. Verden an der Aller eben.

Doch die Mitglieder kommen in Scharen: Dieser Tage wird das Zweitausendste beitreten. Selbst Organisationen wie Greenpeace oder amnesty international sehen staunend zu. Ver.di hat bei Attac unterschrieben, Oskar Lafontaine überweist seinen Jahresbeitrag, Nicht-Regierungsorganisationen und Grünen-Ortsverbände sind dem Netzwerk ebenso beigetreten wie viele Einzelpersonen zwischen 20 und 70. Es sei der „Genua-Effekt“, heißt es. In Genua, bei den Demonstrationen zum Gipfeltreffen der acht mächtigsten Industrienationen, erschoss die italienische Polizei den Studenten Carlo Giuliani, knüppelte schlafende Gegengipfelteilnehmer niederund sperrte sie tagelang ein. Attac war derweil auf allen Fernsehschirmen zu sehen, verurteilte Gewalt und Gegengewalt und präsentierte zudem konkrete Forderungen an die Wirtschaft. So was schafft Sympathien.

Vor dem Attac-Büro in Verden parkt an diesem Nachmittag im Herbst ein VW- Polo, der Kofferraum ist bis fast an die Decke gestapelt mit Kisten voller Briefumschläge, es ist der Postausgang von einem einzigen Arbeitstag, und drinnen im Haus sucht Christoph Bautz, dunkler Pferdeschwanz, hagere Gestalt, verwaschene Jeans, nach Ruhe für ein Gespräch. Vier viel zu kleine Räume, vollgestopft mit Papier, Telefonen, Computern, Druckern, Transparenten, Zeitungen, hat Attac angemietet im Verdener Umweltzentrum, einer umgebauten Kaserne. In der ist von Naturschutzorganisationen über Dritte-Welt-Vereinen bis Fahrradwerkstätten alles ansässig, was in der alternativen Szene der Region Rang und Namen hat. Bundesweit ist Verden zumindest innerhalb der Umweltpolit-Szene ein Begriff. Bewusst aufs Land ziehen, in kleinteiligen Strukturen arbeiten und eine Art idealtypisches Leben im Einklang mit der Natur führen, finanziert über Stipendien, Eltern, Erbschaften und meistens unter dem skeptischen Blick der alteingesessenen Bevölkerung, diese Aussicht hat viele hergelockt.

Es sind vor allem Westdeutsche und – jedenfalls, was Attac angeht – vor allem Männer. „Unser Geschlechterverhältnis ist noch ziemlich düster“, sagt Christoph Bautz. Im zehnköpfigen Koordinierungskreis, dem höchsten Entscheidungsgremium von Attac, sitzt nur eine Frau – und die wohnt in Hamburg und kommt nur selten nach Verden. Vielleicht haben sich die Männer durchgesetzt, weil sie auch das Wort ergreifen, wenn sie sich eigentlich nicht so sicher sind. Vielleicht auch, weil sie Verdener Strukturen seit langem kennen und in ihnen zu Hause sind. Einige der Attac-Männer wohnen sogar zusammen.

„Einige von uns, Felix Kolb zum Beispiel, sind schon seit ein paar Jahren hier“, sagt Christoph Bautz, weiterhin in der Hoffnung, irgendwo in dem zweistöckigen Gebäude eine Nische zum Reden zu finden, „die hatten bereits einen Verein zur demokratischen Kontrolle von Finanzmärkten gegründet, und weil der sich mit den Zielen von Attac deckte, haben sie sich vor etwa einem Jahr Attac angeschlossen“. Weswegen die Bundeszentrale der deutschlandweit größten globalisierungskritischen Bewegung jetzt eben in Verden ist.

Endlich, ein unbelegter Raum. „Wir kommen kaum hinterher“, sagt Bautz. Mit der dringend nötigen Büroerweiterung. Mit den Anfragen. Mit der Aktualisierung der Datenbank. Mit dem Eintüten von Briefen und Infopaketen.

Seit den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Genua geht das so. Nach den Anschlägen vom 11. September flaute das Interesse nur solange ab, bis Interessierte und Attac-Leute den Terror mit der Globalisierungskritik zusammenbrachten (siehe Interview).

So ungebrochen die Sympathie für Attac in der Bevölkerung ist, die Kritik an ihren Forderungen seitens Ökonomen nimmt zu. Eine Einzelforderung ohne Einbettung in ein ökonomisches Weltwirtschaftskonzept sei das geradezu penible Festhalten an der Tobin-Steuer, und, schlimmer: „Die missbrauchen meinen Namen“, beklagte sich der US-amerikanische Nobelpreisträger James Tobin. Tobin hatte die Steuer in den 70er Jahren vorgeschlagen, die Spekulanten das Geschäft vermiesen sollte. Genau das ist jetzt eine der zentralen inhaltlichen Forderungen von Attac – mit dem Unterschied, dass die Globalisierungskritiker, anders als der Freihändler Tobin, die Steuer zur Linderung der weltweiten Armut einsetzen wollen. Wer sie in welcher Höhe eintreiben soll, wer entscheidet, wem die Einnahmen zugute kommen, wie erreicht werden kann, alle Länder in ein Boot zu holen – weigern sich beispielsweise die USA, mitzumachen, ist die ganze gute Absicht der Lächerlichkeit preisgegeben – darüber jedoch gibt es kein Konzept. Aber das sei auch gar nicht die Aufgabe von Attac, sagt Christoph Bautz. „Wir sind diejenigen, die die Leute auf die Straße bringen.“ Er versucht, sich verständlich zu machen, sucht eine Definition, findet eine: „Eine Bildungsbewegung mit Aktionscharakter.“ Bisher reichte das auch: Steueroasen schließen! EU-weite Zinsbesteuerung einführen! Keine weitere WTO-Runde, solange die Industrieländer Produkten aus Entwicklungsländern ihre Märkte verschließen! Die Forderungen klangen gut, sie traten für eine gerechte Sache ein, sie brachten Menschen, denen allein schon bei dem so wenig griffigen Wort Globalisierung mulmig wird, auf die Straße. Jetzt aber, da die Mitgliederzahlen in die Höhe schnellen, da Attac bundesweit, selbst von den EU-Finanzministern wahrgenommen wird, stellen sich zunehmend Fragen: Reichen diese punktuellen Ansätze, um auch längerfristig ernst genommen zu werden? Muss Attac die Durchsetzbarkeit der Forderungen belegen? Wer will eigentlich kontrollieren, dass die vielen Regionalgruppen auch wirklich Ziele von Attac unterstützen und nicht bloß das Label benutzen, x-beliebigen kommunalpolitischen Initiativen Nachdruck zu verleihen? Wer verhindert, dass organisationserfahrene Gewerkschafter und Profifunktionäre den Laden übernehmen?

Das alles, sagen Christoph Bautz, Oliver Moldenhauer und Felix Kolb übereinstimmend und mit einer verblüffenden Ehrlichkeit, sei derzeit schwer zu beantworten. Sicher sei, dass ein wissenschaftlicher Beirat ins Leben gerufen werden müsse. Was die Inhalte anginge, so müssten die NGOs weiterhin stark zuarbeiten. Aber, schränkt Oliver Moldenhauer ein: „Klar muss auch bleiben, dass wir weder an 10.000 Fronten kämpfen wollen noch mit unseren Forderungen die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttern werden.“ Mit dem gelegentlichen Missverständnis, Attac sei aufgrund seines derzeitigen Erfolgs ein Allheilmittel für sämtliche Übel dieser Welt, müsse aufgeräumt werden, spätestens bei dem großen bundesweiten Kongress am Wochenende. Der Kongress soll über die Frage debattieren, ob Attac künftig angesichts seiner plötzlichen Größe besser als Verein mit Vorstand, Satzung und Spendenquittungen agieren soll oder weiterhin als Netzwerk. „Und dann kommt es vor allem darauf an, dass wir unsere demokratischen Strukturen erhalten“, sagt Felix Kolb.

Zurzeit steht das zumindest für die Zentrale nicht zu befürchten: In der Enge von Verden scheint es unmöglich, einsame Entscheidungen zu treffen, ohne dass alle davon Wind bekämen.