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Debattieren an der Abbruchkante

von HANNES KOCH und KATHARINA KOUFEN

Kaum hat der Kongress der Globalisierungskritiker begonnen, da geht es schon in die Vollen. „Wir leben an der Abbruchkante der Zeit“, zitiert der Schweizer Publizist Jean Ziegler den preußischen Philosophen Immanuel Kant – und nennt die Jahreszahl 1789. Wow, Sturm auf die Bastille, Revolution! Und Ziegler legt nach: Mit dem Neoliberalismus ist kein Kompromiss möglich – denn jener will nichts weniger, als das Erbe der Aufklärung zu liquidieren. Die 1.500 Leute im großen Hörsaal der Technischen Universität Berlin liegen dem Redner zu Füßen. Hunderte verfolgen Zieglers Rede vor den Bildschirmen im Nachbarsaal. Etwas Neues beginnt, etwas ganz Neues, eine andere Zeit – und Attac, das „Bündnis für eine Besteuerung der Finanzmärkte und zur Hilfe der Bürger“, das Netzwerk der Globalisierungskritiker, ist von Anfang an dabei.

So grimmig angesichts der Zustände, so entschlossen die Versammlung auch ist, diese hinter sich zu lassen, so leicht lässt sie sich lenken. Ein Ordnungsruf der Versammlungsleiterin reicht, schon schweigt der Saal. Eine disziplinierte Veranstaltung. Der letzte Handy-Telefonierer ist schnell nach draußen komplimentiert. Horst-Eberhard Richter, weißhaariger Psychoanalytiker und Veteran der Friedensbewegung aus den Achtzigern, hat das Wort.

Er formuliert das Thema, das in allen 70 Veranstaltungen mitschwingt: die Anschläge in den USA und ihre Ursachen. „Wer über Terrorismus reden will, darf über die Armut nicht schweigen.“ Oder, wie Werner Rätz aus dem Koordinierungskreis von Attac es auf der Abschlussdiskussion noch einmal formuliert: „Terrorismus ist die andere Seite von Globalisierung.“

Alles ist eine Folge der Globalisierung oder hat zumindest irgendwie damit zu tun – die Stärke der Veranstaltung liegt nicht unbedingt in ihrer Fähigkeit, zu differenzieren. „Der Schlag vom 11. September“, so Richter, „kam aus einem der ärmsten Länder der Welt.“ Dies sagte er – wohl wissend, dass das Land Afghanistan allenfalls das Operationsgebiet einer vermögenden islamistischen Eliteorganisation ist, die sich an den Börsen der Welt möglicherweise bestens auskennt.

Für die große Mehrheit der Kongressbesucher ist die Argumentation logisch: Der Kapitalismus ist für das Elend der Welt verantwortlich, die neoliberale Globalisierung treibt dieses Elend auf die Spitze – und der 11. September ist ein Zeichen, dass es so nicht weitergeht. Jean Ziegler: „Die Angriffe auf die USA sind ein unglaubliches Verbrechen, aber für die Menschen in der Dritten Welt ist die Globalisierung der Finanzmärkte der tägliche Terror.“ Beifall. „Der Raubtierkapitalismus herrscht auf dem ganzen Planeten.“ Applaus. Richter: „Aber das Prinzip der Ungerechtigkeit ist jetzt am Ende!“ Ovationen.

So umfassend das Spektrum der Kritik sich darstellt, so breit soll das Bündnis der Globalisierungskritiker auch bleiben. Derzeit umfasst es 88 Gruppen. Dazu gehören Gewerkschaften, Entwicklungs- und Umweltverbände, Studentenorganisationen, die Überreste der Friedens- und der Dritte-Welt-Bewegung. Der Kongress diskutierte auch die Frage, ob Attac eine Programm brauche – und welche Positionen darin vertreten sein dürften.

Für Attac-Sprecher Sven Giegold ist klar: Ein umfassendes Programm braucht es nicht. Das Netzwerk solle sich auf einen Forderungskatalog à la Tobinsteuer und Entschuldung der Dritten Welt beschränken. Die Mehrheit der Teilnehmer teilt diese Ansicht. Jean Ziegler sagt es so: „Für den Sturm auf die Bastille brauchte man auch kein Programm.“ Und so stark die Grünen auch für ihre Unterstützung des Krieges gegen Afghanistan ins Gebet genommen werden – auch sie sollen weiter dazu gehören.

Vielfalt ist der größte gemeinsame Nenner – das gilt auch für Oskar Lafontaine. Manche meinen, Lafontaine wolle seine Karriere mit Hilfe der Globalisierungskritik neu starten. Andere befürchten, er werde zum Promi-Aushängeschild der Bewegung. Deshalb war seine Teilnahme an einer Diskussion über die „Ohnmacht des Nationalstaats“ zunächst umstritten.

„Ich bin gekommen, weil ich die Ziele von Attac unterstütze“, sagt Lafontaine dann ganz harmlos. Und fordert eine „Rückkehr des Staates“, denn „demokratisch gewählte Regierungen und nicht die Märkte müssen die Politik bestimmen“. So dürfe auch die Rentenversicherung keinesfalls „der Spekulation der Finanzmärkte unterworfen“ werden. So nutzt der Exfinanzminister die Chance zur Kritik an der Rentenreform der Bundesregierung, die er sich im März 1999 aus Protest gegen den neoliberalen Wirtschaftskurs verlassen hatte (siehe rechte Seite).

Als „unsäglich naiv“ bezeichnet der Politologe Wolf-Dieter Narr den Glauben, man müsse „nur zum Staat zurückkehren, und alles wird gut“. Denn der Staat vertrete immer „die Habenden“, er sei „mit dem Kapitalismus eine unlösbare Ehe eingegangen“.

Ingeborg Wieck vom kirchlichen Entwicklungsverband „Südwind“ relativierte die Schelte gegen den Staat. Sie stellte sich gegen das Argument, wichtige Entscheidungen würden ohnehin auf supranationaler Ebene gefällt. „Die Mandate, mit denen die Regierungen in die EU-Verhandlungen oder zu Welthandelstreffen gehen, kommen nach wie vor innerhalb der Staaten zustande.“ Den rund 1.500 Zuhörern im überfüllten Hörsaal kam es auf solche Feinheiten nicht an – viele klatschten bei Pro- und Contra-Argumenten gleichermaßen, wenn die Redner nur genügend Überzeugung in ihre Stimme legten.

Offenbar hat der 11. September die globalisierungskritische Bewegung nicht gestoppt. Und die weiß allmählich besser, was sie will: Als globale Zivilgesellschaft den öffentlichen Raum wieder herstellen, den der Neoliberalismus dem freien Markt überantworten will. Welche Organisationsformen, welche politische Praxis, welcher geografische Bezugsrahmen dafür nötig ist, blieb allerdings im Dunkeln.

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