: Mit der Zunge zwischen den Kontinenten
Blinde Flecken im Meer: Während der diesjährige Nobelpreisträger V. S. Naipaul die Kulturlosigkeit seiner westindischen Heimatinseln verachtet, feiert sein ebenfalls nobelpreistragender Kollege Derek Walcott gerade die Vielfalt kreolischer Sprache – als „Tautropfen auf der Stirn einer Marmorstatue“
von CRISTINA NORD
Schon der Name zeugt von einem historischen Unfall: Westindien. Ganz so, als ginge es um Landstriche bei Bombay oder Ahmadabad, anstatt um Küstengebiete und Inseln im westlichen Atlantik. Den Entdeckern, die am Ende des 15. Jahrhunderts eine Seeroute nach Indien erschließen wollten, kamen diese Inseln in die Quere, noch bevor die Landmasse Amerikas der Suche ein Ende breiten sollten. Und weil die Seefahrer entweder ihre hohen Hoffnungen nicht sofort im Meer versenken wollten oder die Verwechslung nicht als solche erkannten, schufen sie sich ein Ersatzindien, in Gestalt eines Archipels statt eines Subkontinents.
Die echten Inder kamen vier Jahrhunderte später, nachdem die Sklaverei abgeschafft worden war. Sie kamen als zwangsverpflichtete Arbeiter, um das Zuckerrohr zu schneiden. Dass sich mit ihnen der Kreis doch noch schloss, ist wohl eine jener bitter-ironischen Wendungen, die die Geschichte bisweilen nimmt.
Einer der Zuckerrohrschneider war der Großvater des Schriftstellers, der in diesem Jahr den Literaturnobelpreis erhalten hat. V. S. Naipaul kam auf Trinidad zur Welt, in Chaguanas, einem Ort in der Nähe der Hauptstadt Port of Spain. Als er 18 Jahre alt wurde, hielt ihn nichts mehr auf der Insel: 1950 ging er nach England, um in Oxford zu studieren, dem geistigen Zentrum der Kolonialmacht (die Unabhängigkeit erhielten Trinidad und Tobago 1962).
Zurück kehrte er nurmehr als Reisender. Was er dabei wahrnahm und notierte, sprach nicht für Westindien. Blinde Flecken im Meer, mal staubig und trist, mal bedrohlich in ihrem tropischen Überschuss, bevölkert von Wesen, die jeder Geschichte, jeder Kultur, jeder Vision entbehren. Städte und Landstriche, provinziell und korrupt, von Bürokratie befallen und in einen Lähmungszustand versetzt, stets am Mittelmäßigen orientiert – so sieht Naipaul die Welt, aus der er kommt.
„Geschichte“, schrieb er vor gut vierzig Jahren in seinem Buch „Auf der Sklavenroute. Meine Reise nach Westindien“, „gestaltet sich um Errungenschaft und schöpferische Hervorbringung, und Westindien hat nichts hervorgebracht.“ Naipaul ist nicht der einzige mit einem solch scharfen Verdikt. Seinem Buch stellte er einige Sätze des englischen Autors James Anthony Froude voran. Der schrieb 1887: „Es gibt hier (gemeint sind die karibischen Inseln, d. A.) keine Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes, Menschen mit eigenem Charakter und eigenem Ziel.“
Als V. S. Naipaul die Aufzeichnungen zu seiner Karibikreise veröffentlichte, lebte in Port of Spain ein weiterer aufstrebender Schriftsteller, auch er ein zukünftiger Nobelpreisträger: Derek Walcott. Er war damals Anfang 30, wie der nach England ausgewanderte Kollege, er stammte von der Insel Saint Lucia, einem Stück Land an der Scheidelinie von Atlantischem Ozean und Karibischem Meer, der Gruppe der südlichen Inseln über dem Winde zugehörig. Studiert hatte der junge Mann dort und auf Jamaica, anschließend in Port of Spain. Er arbeitete als Theater- und Kunstkritiker, schrieb Gedichte und Stücke. 1959 gründete er den Trinidad Theatre Workshop, 1962 wurde seine Gedichtsammlung „In a Green Night“ in London verlegt.
Ob V. S. Naipaul sich mit ihm getroffen hat, als er Port of Spain besuchte? Vermutlich nicht. Denn wären die beiden sich damals begegnet, Naipaul hätte guten Gewissens nicht schreiben können: „Da er in einer geborgten Kultur lebt, braucht der Westinder mehr als die meisten anderen Menschen Schriftsteller, die ihm sagen, wer er ist und wo er steht. Hier haben die westindischen Schriftsteller versagt. Die meisten haben bislang nur die Vorurteile ihrer Rasse oder Hautfarbengruppe reflektiert und bedient.“
Wer er ist und wo er steht? Walcott könnte mit einem Vierzeiler antworten, einer Melange aus kreolischem und britischem Englisch, die so sicher über die Lippen geht, dass von all den Mängeln, die Naipaul auflistet, keiner bleibt: „I’m just a red nigger who love the sea, / I had a sound colonial education. / I have Dutch, nigger, and English in me, / and either I’m nobody, or I’m a nation.“ („Ein roter Nigger, der lieben das Meer, / Bin ich, mit echt kolonialem Diplom; / Hab Holländisch, Nigger und Englisch in mir, / Bin entweder niemand oder eine Nation.“)
Dass es in einer geborgten Kultur lebt und daran leidet, mag man dem Ich dieser Zeilen nicht abnehmen, eher schon, dass es sich einverleibt hat, was ihm an Herkünften auf den Weg gegeben wurde. Walcott sieht darin keinen Verlust, wie Naipaul es tut, sondern eine spezifische Form des Glücks: Das Glück einer Vorstellungsgabe (wenn die vierte Zeile in nation mündet, so ist dies nicht zufällig ein Echo auf imagination), die um so reicher ist, je mehr Quellen sie hat.
Es ist auch das Glück, in Anwesenheit aller Sprachen der Welt zu schreiben, wie es Edouard Glissant einmal formuliert hat, ein Schriftsteller und Theoretiker aus Martinique, zur selben Generation wie Naipaul und Walcott gehörig. Schließlich haben sich Einwanderer aus so vielen Weltgegenden in der Karibik angesiedelt, dass bald jede Sprache einen Gesandten dort haben dürfte. Bei Walcott hört man ihr Echo, wenn die Gedichte die imaginären Welten Homers in die Antillen verlegen, wenn sie Othello, Prospero, Robinson und Freitag auftreten lassen oder sich am Kreol samt seiner unterschiedlichen Abstufungen gütlich tun. Damit findet Walcott den Ausweg aus einem Dilemma, das sich dem Ich des Gedichts „Ein Schrei weit weg von Afrika“ (1979) folgendermaßen präsentiert: „Wohin soll ich mich wenden, gespalten bis aufs Blut? / Ich, der den betrunkenen Offizier / Britischer Hoheit verfluchte, wie soll ich wählen / Zwischen diesem Afrika und der geliebten englischen Zunge?“
Ein Meister darin, dem abstrakten Gedanken eine konkrete, nicht minder komplexe Gestalt zu geben, hat Walcott das Zusammenspiel von Hochsprache und Umgangssprache, von britischem und karibischem Englisch, von langue und parole mit einem „Tautropfen auf der Stirn einer Marmorstatue“ verglichen – und damit zugleich benannt, was es für ihn heißt, Verse zu schreiben: „die individuelle Stimme“ forme „ihren eigenen Akzent, ihr eigenes Vokabular und ihre Melodie unter Missachtung eines imperialen Sprachkonzepts, der Sprache von Ozymandias, von Bibliotheken und Wörterbüchern, von Gerichten und Kritikern, von Kirchen, Universitäten, politischen Dogmen, der Diktion öffentlicher Einrichtungen. Die Lyrik ist eine Insel, die sich vom Festland ablöst. Die Dialekte meines Archipels erscheinen mir so frisch wie jene Regentropfen auf der Stirn der Statue, nicht der Schweiß aus der klassischen Anstrengung stirnerunzelnden Marmors, sondern die Kondensate eines erfrischenden Elements, Regen und Salz.“ Man sollte diese Frische ganz wörtlich nehmen: Wo Walcott das Meer, den Wind, das Licht oder die Hitze beschreibt, entsteht eine Welt, der nicht viel fehlt, und sie ließe sich – obwohl aus Buchstaben gefertigt – schmecken, spüren und riechen. Dies gilt nicht allein für die Gedichte, die sich einen westindischen Schauplatz wählen, sondern auch für die, die Walcott in New York oder Boston ansiedelt, seinem zweiten Wohnsitz neben Port of Spain.
Walcott hat Naipaul „und mit ihm all denen, die Westindien Geschichte und Kultur absprechen“, tatsächlich geantwortet. 1992 war das, nachdem ihm der Literaturnobelpreis verliehen worden war, in seiner Rede vor der Schwedischen Akademie. Zwar fällt der Name Naipauls an keiner Stelle. Doch die Rede ist voller Anspielungen, die dem Kollegen gelten und dessen despektierlichen Blick auf die Karibik in Frage stellen. Wer sich im Angesicht der Tropen dem Überdruss oder der Melancholie hingebe, wer sich in das Vorurteil der Tristesse einspinne, der begehe einen Irrtum: „Doch ist da etwas Fremdes und letzlich Falsches in der Art“, sagte Walcott in Stockholm, „wie solche Trauer, ja, Morbidität von englischen, französischen oder von einigen unserer Schriftsteller im Exil beschrieben wird. Es steht im Zusammenhang mit einem Missverstehen des Lichtes und der Menschen, auf die das Licht fällt.“
Zuletzt ist von Derek Walcott erschienen: „Mittsommer/Midsummer“. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem karibischen Englisch von Raoul Schrott. Hanser Verlag, München & Wien 2001, 146 Seiten, 32 DM
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