Justitia am Abgrund

Staatsanwälte und Richter klagen über katastrophale Arbeitsbedingungen und chronischen Personalmangel. Justizsenator Wieland (Grüne) zeigt Verständnis für die harte Kritik

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Ein normaler Arbeitstag eines Berliner Richters: Bei einer Verhandlung ist es notwendig, aus dem Sitzungssaal heraus ein Telefonat mit einer korrespondierenden Justizstelle in Brandenburg zu führen. Der Richter darf ein Ferngespräch jedoch nur von seinem Dienstzimmer führen, muss also die Telefonzentrale um die Gesprächsvermittlung bitten. Das dauert. Die Zentrale ist überlastet. Alles wartet. Der vor Gericht geladene Beschuldigte ist ohnehin nicht erschienen. Erst während der Verhandlung erfährt der Richter zufällig von einem Zeugen, dass der Beschuldigte umgezogen ist. Die Verhandlung muss vertagt werden. Eine Adressenanfrage beim Landeseinwohneramt dauert bis zu zwei Monate. Zwischenzeitliche Verhaftungen kann der Richter nicht abfragen. Er hat keinen Zugriff auf Datenbanken der Polizei. Bei seiner späteren Urteilsbegründung steht dem Rechtssprecher kein aktueller Gesetzeskommentar zur Verfügung. Die Bände im Sitzungssaal haben eher antiquarischen Wert. Das Urteil muss der Richter, soll es schnell gehen, ohnehin zu Hause auf seinem privaten Computer schreiben. Ein Dienstgerät hat er nicht. Den fertigen Text kann er allerdings nicht in seine Dienststelle mailen. Im Amtsgericht Moabit gibt es keine Internetanschlüsse. Hat der Richter die Aktenberge seines Falles schließlich bearbeitet, muss er sie eigenhändig zurücktragen.

So beschreiben Staatsanwälte und Richter ihren Alltag. Justitia geht es schlecht an der Spree. Die Berliner Gerichte seien „auf dem Stand des letzten Jahrhunderts“, beklagte am Dienstag David Hawkes auf einer ersten gemeinsamen Pressekonferenz aller Interessenvertreter der Berliner Justiz die Arbeitsbedingungen. Hawkes, Vorsitzender Personalrat der Berliner Staats- und Amtsanwälte, spricht von einem „unerträglichen Zustand“. Das komme einer „Nichterfüllung“ der staatlichen Justizgewährleistungspflicht nahe, sagen die versammelten Interessenvertreter frustriert. Neben modernen EDV-Anlagen fehlten der Haupstadtjustiz über 100 Diensträume, Aktenlager, Personal und selbst der vom Staat verfügte Arbeitsschutz sei miserabel. So ließen Ungezieferbefall und undichte Dächer der Amtsgerichte die Arbeitsbedingungen bis unter das rechtlich zulässige Niveau fallen.

Offenbar ein desolater Zustand, die Rechtspfleger sprechen von einer Justiz „am Abgrund“. Unterstützung erhielten die Juristen am Mittwoch von ihrem obersten Dienstherren, Justizsenator Wolfgang Wieland (Grüne). Die harte Kritik sei „verständlich“, sekundierte der, und ein „sehr ernst zu nehmendes Warnsignal“. Nicht spektakuläre Sicherheitheitpakete erhöhen nach Ansicht Wielands das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung, sondern das Vertrauen, dass Straftäter „zügig ermittelt und zeitnah zur Rechenschaft“ gezogen werden.

Doch damit sieht es schlecht aus. Rund 30.000 Ermittlungsverfahren warten offizell in Berlin auf Erledigung. Insbesondere in der aufwändig zu ermittelnden Wirtschaftskriminalität sei von Wartezeiten von drei bis fünf Jahren auszugehen. Zeit genug also, neue Delikte zu begehen. Besonders problematisch sei die Situation bei den Jugendstrafgerichten. Werde ein Verfahren erst nach über einem Jahr abgeschlossen, sei der ursprünglich angestrebte pädagogische Effekt obsolet, sagt ein Jugendrichter.

So kämpft die Berliner Justizmit Papier und Bleistift gegen technisch hochgerüstete Täter. Die Verfolgung der Internet- und Computerkriminalität mutet aus den Diensträumen von Europas größtem Strafgericht, dem Kriminalgericht Moabit, eher wie ein Science-Ficition an, denn wie moderne Justizarbeit.