: Kaputtness vor Jugend
Schnupfen, Regen, Nebel und Tränenmeere in der Badewanne: Im Moment zeigt der Herbst seine üppige, depressive Pracht. Zeit für einen kleinen Gothic-Text
Der Herbst ist gekommen und verspritzt verschwenderisch seine depressive Pracht. Es ist jetzt die Zeit des Sterbens. Alles stirbt und die Hoffnung stirbt zuerst. Direkt vor meinem Fenster strömt nichtendenwollender Regen, als würde der betrunkene Gott seine unablässig unter Hochdruck stehende Blase direkt auf mein Haus entleeren. Dabei ist das nicht mein Haus. Ich bin hier nur Mieter. Ein schwacher Trost, wenn ich ertrinke.
Beim Gedanken daran weine ich ohne Unterlass, weine wie ein Fass ohne Boden, weine wie der Regen da draußen. Ich blicke in die Sturzbäche und weine noch mehr. Mir fällt ein, dass, wenn ich nicht ertrinke, ich verhungern werde. Jetzt weine ich noch mehr. Das geht schon fast gar nicht mehr. In meiner Wohnung ist schon alles nass. Andauernd renne ich ins Bad und schütte einen vollen Träneneimer in die Badewanne. Als die Badewanne voll ist, lege ich mich hinein. Ein Salzbad ist gut gegen Schnupfen. Ich will nicht an Schnupfen sterben. Ist zwar eigentlich egal, weil ich ja eh ertrinke oder verhungere, aber noch regt sich mein Kampfgeist.
Der Hunger quält mich. Der Hunger ist im Moment mein schlimmster Feind. Ich wollte ja einkaufen gehen, doch das geht nicht bei dem Regen. Wenn ich da rausgehe, werde ich wahnsinnig nass und bin sofort tot. Wenn ich dagegen hierbleibe, habe ich die geringe Chance, dass der Regen wieder aufhört. Die Hoffnung ist klein – der Herbst ist ein erbarmungsloser Schnitter. Wo bleibt da der Staat? Die Bundeswehr? Das technische Hilfswerk? Die lassen uns alle hier verrecken. Wir sind verloren. Dabei habe ich schon vor Jahren meine Grundforderungen an den Bundeskanzler gefaxt: Neben einer monatlichen Leibrente hatte ich auch die Lösung für Tage wie heute parat: Essen auf Rädern für alle bei schlechtem Wetter! Hubschrauber, aus denen tapfere, wettergegerbte Männer mit Südwestern, die man in jahrelangem Training für Einsätze wie diesen gestählt hat, an langen Drahtseilen Cordon Bleu in Pfefferrahmsauce und Pommes in die Hinterhöfe herablassen. Viele würden dabei umkommen, da es gefährlich ist, bei diesem Regen zu fliegen. Nach ihnen werden dann Sackgassen in Haselhorst oder Ahrensfelde benannt. Die Überlebenden kriegen meinetwegen das Bundesverdienstkreuz – Hauptsache, ich habe endlich was zu essen! Der Regen hat inzwischen tatsächlich aufgehört. Ich steige aus der Wanne und gehe wieder ans Fenster. Was ich sehen muss, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren: Der Himmel ist dunkelgrau und Nebel senkt sich langsam herab. Das sieht ganz furchtbar aus. Furchtbar gefährlich. So kann ich doch nicht einkaufen! Ich weine noch mehr. Wenn ich nicht verhungere oder ertrinke, werde ich innerlich austrocknen. Wenigstens bekomme ich keinen Schnupfen.
ULI HANNEMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen