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Duft aus der Kindheit

Was einem Berliner Weinhändler passieren kann, wenn er seiner Italo-Klientel plötzlich einen Schluck deutschen Eiswein serviert.Eine Rückschau auf einen denkwürdigen Sommertag

von TILL DAVID EHRLICH

Berlin im Hochsommer. Es ist heiß, die Luft stickig. Der Weinladen im Charlottenburger Westend ist übervoll. Ich zwänge mich zwischen adrett auf Klappstühlen platzierten Kunden und wandhohen Regalen, fülle Gläser. Dunkler, schwerer Rotwein. Barolo, Piemont, sage ich. Danke, sagt eine ältere Dame im apfelgrünen Kleid, und es klingt wie das Schnurren einer Katze.

La dolce vita ist Thema des heutigen Weinseminars, dem letzten vor den großen Ferien. Es ist ein Selbstläufer. Namen wie Vino Nobile di Montepulciano oder Vernaccia di San Gimignano tragen ein romantisches Versprechen in sich, symbolisieren mediterrane Leichtigkeit und erdige Schwere, feuern jene an, die noch auf der Suche sind. Nach alternativen Lebensentwürfen oder schlicht einem Urlaubsziel. Und sie lindern den Schmerz jener, die sich bereits wieder gewöhnen müssen, an das Funktionieren, an Berlin. Die Kunden sind freundliche Büromenschen, gepflegte Witwen, allein lebende Pensionäre. Interessierte Konsumenten und genussfleißige Bürger. Aber trotz ihrer Bereitschaft, sich auf Wein einzulassen, spürt man ein Zögern. Es ist jedoch kein Geiz, eher die protestantische Skepsis vor Genuss und bacchantischen Sinnesfreuden. Das chronisch schlechte Gewissen, etwas Unanständiges zu tun, wenn man einen teuren Wein kauft.

Wir verkosten weitere toskanische Rotweine, schieben eine kleine Pause ein, stärken uns mit Käsehäppchen. Dann kommt ein Weißwein aus der Toskana, Vernaccia di San Gimignano. Ich erkläre seinen Duft, die Struktur, spreche über das verwitterte Vulkangestein von San Gimignano, das dort terre di tufi heißt und sage, dass der Tuffsteinboden diesem Wein mineralische Aromen verleiht, manchmal, und Michelangelo diesen Wein liebte. Ein Selbstläufer. Heiter, geschmeidig, medioker. Meine Gedanken aber sind nicht wirklich in der Toskana. Ich denke an Eiswein. Eiswein ist ein Wunder der Natur. Ein winterliches Glücksspiel. Ein Geschenk des Zufalls in Form von Frost zum richtigen Zeitpunkt. Fast ein Anachronismus. Ich weiß nicht, ob ich den Chianti-Trinkern vom Eiswein erzählen soll. Eisweintrinken ist eine Begegnung mit starken Sinneseindrücken, die Konfrontation mit einem edelsüßen Weinkonzentrat. Eisweintrinken im Sommer? Soll ich den Kunden von meiner Sehnsucht erzählen?

Die Apfelgrüne fragt, ob ich ihr noch einen Schluck Barolo bringen könne. Sie redet auf ihren Nachbarn ein, der Barolo sei doch bis jetzt der beste Wein, oder? Aber er sei ihr viel zu teuer, wie alle Weine, die sie hier probiert. Der Mann, ein sonnengebräunter Endfünfziger mit Goldrandbrille, nickt angestrengt, tupft sich Schweiß von der Stirn und fragt nach Mineralwasser.

In diesem Moment gebe ich mir einen Ruck, hole eine kleine Flasche aus dem Klimaschrank. Es ist ein Geschenk. Ich kämpfe mich wieder durch den Laden, tausche Gläser, jeder bekommt nur einen kleinen Schluck. Eiswein, sage ich. Aus Italien?, fragt die apfelgrüne Frau. Nein, aus Deutschland. Eigentlich trinke sie nur trockene italienische Weine, zischt die apfelgrüne Frau, eigentlich. Dann wird es still im Weinladen. Ich erzähle den Kunden von der Eisweinernte, spreche über eisige Januarnächte und den Poker des Winzers mit der Natur, bei 10 Minusgraden. Und ich erzähle den Chianti-Trinkern vom Einsatz des Winzers bei diesem Spiel: ein Jahr Arbeit im Weinberg. Darüber, was passiert, wenn der Frost nicht rechtzeitig kommt. Ich erzähle von Trauben, die am Rebstock verfaulen. Aber, sage ich, wenn es gut geht, und es geht selten gut aus, dann tropfen wenige Liter Most aus den Eistrauben. Ein zäher Sirup. Göttlicher Nektar. Weniger als ein Zehntel dessen, was bei einem normalen Wein im Herbst geerntet wird. Und dann spreche ich über die wenigen limitierten Flaschen des fertigen Eisweins, Unikate allesamt. Ich sage, dass sie etliche Jahre Reife brauchen, aber Jahrzehnte altern können. Ich spreche über Individualität, über Wein, der von der Norm abweicht; der kein Massenprodukt ist, und dadurch eine Oase der Hoffnung sein kann. Eine Flaschenpost.

Die apfelgrüne Frau nimmt jetzt doch einen Schluck, vorsichtig. Dann lächelt sie plötzlich. Kindheit, sagt die apfelgrüne Frau. Der Wein erinnert mich an einen Duft aus meiner Kindheit, sagt sie, aber sie wisse nicht genau, was es sei. Die Seminarrunde schaut jetzt fast ehrfürchtig in die Gläser, einige riechen intensiv am Wein. Im Weinladen steht die Sommerhitze. Die Leute sind friedlich, in sich versunken. Die apfelgrüne Frau schnuppert am leeren Glas und leckt langsam den letzten Eisweintropfen vom Rand. Was so eine Flasche Eiswein wert sei, will der sonnengebräunte Mann wissen. Ich weiß es nicht, sage ich. Ob er jetzt eine Flasche kaufen könne, erwidert er hartnäckig. Nein, sage ich, es ist ein Geschenk. Eigentlich, sagt die apfelgrüne Frau, eigentlich ...

Der Berliner Weinjournalist TILL DAVID EHRLICH schreibt u. a. für den „Wein Gourmet“

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