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Er lässt sie erzählen

Was alt gewordenen Jazz-Musiker denken, wenn sie durch Varietees tingeln: Niels Bolbrinkers Dokumentarfilm „It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing“

Ein Boot auf dem Wannsee, Lichtschatten spielen in den sanften Wellen. Zwei ältere Männer legen sich auf einem tragbaren Kofferplattenspieler eine Aufnahme des „Tiger Rag“ auf. Sie lehnen sich zurück und genießen die Musik, gemeinsamen Erinnerungen nachhängend. Schön war es damals, aufregend und auch gefährlich. Denn Jazz galt als subversiv und entartet.

Ein Stück deutscher Widerstand, wenn auch nur als Musikgeschmack. Paris galt damals als Symbol für Freiheit und Boheme. Die Stadt des berühmten Jazzclubs „Hot Spot“ in der rue Chaptin. Berlin dagegen, das war die „Reichsmusikkammer“, in der nur Arier zugelassen waren, Männerchöre und Tanzkapellen. Die Kamera fährt an den Touristenfallen von Paris vorbei, dann wird der Eiffelturm zum Funkturm, der Zuschauer ist wieder in Berlin. Im Varietee „Wintergarten“, wo ihm das „Savoy Dance Orchestra“ aufgedrängt wird.

Wer sich bisher nie dafür interessierte, was unzählige von alt gewordenen Musikern denken, die mit ihren Programmen durch westdeutsche Varietees tingeln, um ihren Lebensunterhalt bestreiten, hat mit dem Film von Niels Bolbrinker Gelegenheit, diese Lücke zu schließen. Die amerikanisch akzentuierte Stimme des Off-Kommentators versucht, Authentizität zu vermitteln. Ebenso das Draufhalten der Kamera auf einige Veteranen des bundesdeutschen Nachkriegsjazz. So wird Saxofonist Helmut Brandt bei der Entgegennahme des großen Bundesverdienstkreuzes am Bande gezeigt. Dazwischengelegte „Wochenschau“-Ausschnitte geben der Erinnerung das dazugehörige Bild. Nicht erwähnt wird, dass Helmut Brandt jahrzehntelang mit dem Rias-Tanzorchester gespielt hat, der amerikanischen Nachkriegseinrichtung für Musiker mit Beamtenstatus. Falls der Swing noch von Nazipropagandisten als „undeutsch“ bezeichnet wurde, wird er hier unfreiwillig zum Klischee des „Deutschseins“: die Musik zur Eichenholzschrankwand. Dabei hat der in diesem Jahr verstorbene Brandt außerhalb der mittlerweile ebenfalls aufgelösten Rias-Bigband alles andere als Swing und Tanzmusik gespielt. Neben Heinz Both, dem „Mr. Swing von Hannover“, der die erste Radioband des Nordwestdeutschen Rundfunks im Nachkriegshannover gründete und regelmäßig im „Café Hochhaus“ auftrat, lernt man auch einen Jazzhistoriker kennen, der gelangweilt einige seiner Schätze vorzeigt.

In Bolbrinkers Dokumentarfilm geschieht alles unvermittelt. Wahllos werden die Musiker aneinander gereiht. Er lässt sie erzählen, die Kamera auf ihren Gesichtern ruhen. Dabei bleibt es dem Zuschauer überlassen, sich seine Unterhaltung selbst herauszuziehen. Das Fehlen jeglicher Fragestellung, ironischer Distanz oder kritischer Auseinandersetzung macht betroffen. Wo ist ein Coco Schumann, der gezwungen wurde, in Auschwitz auf der Rampe die ankommenden Deportierten mit fröhlichem Swing zu begrüßen? Oder das Zitat Adornos, der 1933 anlässlich des Verbots, im Rundfunk „Negerjazz“ zu übertragen, die Nazis zu beruhigen versuchte, dass mit diesem „Stück schlechten Kunstgewerbes“ eine Dominanz der „Negerrasse“ nicht zu befürchten sei. Nach diesem Film hilft nur der Gang zur Dusche. MAXI SICKERT

25. 10.–3. 11. Brotfabrik, Prenzlauer Promenade 2, Weißensee; 6.–7. 11. Eiszeit, Zeughofstr. 20, Kreuzberg

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