: Der Tag, als Westberlin unterging
Deutsch-deutsche Spiegelungen: Die PDS ist kein Gespenst der Vergangenheit – das konservative Westberlin reagiert gekränkt
Als Debattenthema ist West-Ost ziemlich aus der Mode gekommen. Die Forderung „Wir müssen uns unsere Biografien erzählen“ machte in den 90ern die Runde und wurde nach ein paar trostlosen praktischen Anwendungen wieder fallen gelassen. Ost-West wurde Teil eines Rituals: Zum 3. Oktober schrieb man halt besonnene Aufsätze zum Thema. Das war ein gutes Zeichen: Wenn Vergangenheit aufhört wehzutun, wird sie Routine. Die Anti-Ost- und Anti-West-Affekte schienen langsam zu verschwinden.
Das war voreilig. Die gegenseitigen Ressentiments sorgen nicht mehr für öffentlichen Aufruhr, aber sie existieren noch. Das Symptom dieser nur scheinbar in beidseitigem achselzuckendem Beschweigen verschwundenen kommunikativen Ost-West-Störung ist die PDS. In den 90ern hatten viele prophezeit, dass sie von allein, an Überalterung und Ideenmangel, zugrunde gehen wird. Nun hat fast jeder Zweite in Ostberlin PDS gewählt. Die PDS, schreibt die Welt trotzig, ist „eine späte Rache Stalins“. Aber die PDS ist kein Gespenst aus der Vergangenheit, das sich langsam auflöst, sondern ein gegenwärtiges Phänomen. Vielleicht ist sie sogar ein Spiegel, in dem Westberlin seinen eigenen Untergang erkennt.
Das konservativ-bürgerliche Westberlin steht vor einem Rätsel. Das Unfassbare droht: Rot-Rot. Die Schreckensvorstellung, dass demnächst Marzahn Reinickendorf regiert, kursiert. Gleichzeitig herrscht Begründungsnotstand: Mit welchem Recht will man der PDS die Regierungsbeteiligung verweigern? Das Standardargument lautete bisher: Die PDS repräsentiert nicht „den Osten“, sondern nur ein Viertel, ein Drittel desselben. Auch heute beharren manche darauf, dass 52 Prozent im Osten nicht Gysi gewählt haben.
Viele Ostler missverstehen dieses Argument schon richtig: Ihr müsst leider draußen bleiben. Der Verweis, dass die PDS im Osten keine absolute Mehrheit hat, ist ein klassisches Beispiel, wie die Anti-PDS-Haltung im Westen – ähnlich wie der Antikommunismus ohne Kommunisten – das Problem verstärkt, das er lösen will. Im Grunde ist es der Aufruf an Ost-Wähler, der PDS demnächst gleich 55 Prozent zu bescheren.
Diese routinierte, aggressive Rhetorik verdeckt ein Gefühl der Depression. Die CDU ist an keinem mächtigen Gegner gescheitert, sie hat sich selbst abgewickelt. Sie hat nicht nur 17 Prozent verloren, fast 60 Prozent ihrer Wähler meinten, dass die Partei in die Opposition gehört. Das letzte Mal, dass sogar die eigenen Wähler eine Partei nicht mehr regieren sehen wollten, war Anfang der 90er. Damals ging es der PDS so.
Der Niedergang der CDU gründet vor allem in dem Bankenskandal, aber er hat gleichzeitig etwas tiefer Wurzelndes zum Vorschein gebracht. Etwas Überfälliges ist zu Ende gegangen, ein Selbstbild zerbrochen. Mit Diepgen und Landowsky ist das alte, gemütlich-provinzielle Frontstadt-Westberlin symbolisch endgültig abgetreten. Westberlin war bis 1989 mehr als eine Stadt, es war ein heroischer Ort, an dem die Freiheit verteidigt wurde, es war eine Idee, ein Medium, das direkten Kontakt mit der Weltgeschichte hatte. Seit 1989 ist Westberlin die Hälfte einer ziemlich bankrotten Stadt, und zwar eine Hälfte, die viele ihrer Symbole verloren hat. Die höchsten Mieten zahlt man nicht mehr am westlichen Ku’damm, sondern an der Friedrichstraße im ehemaligen Osten. Wer, ob als Künstler oder Investor, in den 90ern nach Berlin kam, der zog es nach Mitte, nicht nach Charlottenburg. Die Schaubühne, in den 70er- und 80er-Jahren der heilige Ort des Westberliner Bildungsbürgertums, ging es Mitte der 90er so wie der CDU bei dieser Wahl. Sie hatte am Ende weder Idee noch Publikum. Seit zwei Jahren machen dort Jüngere, die ihr künsterlisches Renommee im Osten erwarben, den Spielplan.
Kann es sein, dass dieser rapide Verlust an Symbolen der eigenen Bedeutung als „Verostung“ rationalisiert wird? Kann es sein, dass die aggressive Unfähigkeit, den Erfolg der PDS anzuerkennen und zu verstehen, die andere Seite der Angst ist, dass Westberlin symbolisch abgewickelt wird?
Die Kränkung war bislang den Ostlern vorbehalten. Sie wollten anerkannt werden, aber „der Westen“ hatte immer gerade etwas Wichtigeres zu tun. Das ist die eiserne, öde Mechanik des Ost-West-Diskurses. In Berlin scheinen, für einen Moment, die Karten anders verteilt. Die Kränkung scheint von Ost nach West gewandert zu sein.
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