: „Lebensborn“-Kinder klagen in Norwegen
Regierung lehnt Entschädigung ab. Opfer wurden nach 1945 zwangsadoptiert oder kamen in die Psychiatrie
OSLO taz ■ Als er in die vierte Klasse kam, merkte Oskar erstmals, dass er offenbar „anders“ war, als seine MitschülerInnen. „Verdammter Deutscher“ wurde er plötzlich genannt, „Nazischwein“. Oskar verstand gar nichts. Als er sich seiner Mutter anvertraute, erfuhr er, dass er nicht bei seinen leiblichen Eltern aufgewachsen war. „Deine Mutter war eine Hure“, sagte ihm seine Adoptivmutter. „Sie hatte es mit Deutschen. Als sie dich bekam, hat sie dich in einer kalten Winternacht vor einer Kirchentür ausgesetzt.“
Oskar ist jetzt 57 Jahre alt. Vor knapp 10 Jahren erfuhr er die ganze Wahrheit: Er kam in einer der „Lebensborn“-Heime zur Welt, die die deutsche Okkupationsmacht in Norwegen für Kinder deutscher Soldaten und norwegischer Frauen eingerichtet hatte. Nach der Kapitulation des Dritten Reiches wurden er und achtzig andere Kinder in diesem Heim ihren Müttern weggenommen, an Pflegefamilien gegeben und zwangsadoptiert.
Heute beginnt in Oslo ein Gerichtsverfahren, das Oskar undeinige hundert anderen „Deutschenkinder“ gegen den norwegischen Staat angestrengt haben: Wegen staatlicher Übergriffe und verweigertem Schutz vor solchen durch Privatpersonen. Sie wollen entschädigt werden für ihre zerstörte Kindheit und Jugend, für den sexuellen Missbrauch durch Heimerzieher und für die medizinischen Versuche, die man mit ihnen anstellte.
Die Geschichte eines „Staatsverbrechens“ nennt Oskar das, was man mit ihm machte. Von jahrelangen Schikanen können fast alle Besatzungskinder erzählen: Per erinnert sich, dass seine Adoptiveltern mit ihm in eine andere Stadt zogen, als es mit den „Nazischwein“-Rufen und den Schlägen begann. Doch auch dort hatte er nur einige Wochen Ruhe: „Es muss wohl Erwachsene gegeben haben, die den Kindern erzählten, wer mein Vater war. Vielleicht sogar die Lehrer. Kinder kommen ja nicht allein auf so etwas.“ Auch Laila ging es nicht besser, ihr wurde jahrelang „Hurenmädchen“ hinterhergerufen: „Es gab da eben diesen wahnsinnigen Hass auf alles Deutsche. Die Leute meinten wohl wirklich, dass wir in Norwegen nichts verloren hätten.“
Reidun erging es noch schlimmer: Sie kam vom „Lebensborn“-Heim direkt in die Psychiatrie. Ein Oberarzt hatte allen „Deutschkindern“ dort nach Ende der Okkupation kollektiv die Diagnose „schwachsinnig und abweichlerisches Verhalten“ ausgestellt. Die Begründung: Frauen die mit Deutschen fraternisiert hätten, seien im allgemeinen „schwach begabte und asoziale Psychopathen, zum Teil hochgradig schwachsinnig“. Es sei davon auszugehen, dass ihre Kinder dies geerbt hätten. „Vater ist Deutscher“ genügte zur Einweisung. „Was waren das für Behörden, die pauschal dutzende von Kleinkindern für schwachsinnig erklären konnten?“, fragt sich Reidun noch heute.
Es waren – neben den Kindern – die betroffenen Frauen, die die Wut der NorwegerInnen über die Okkupationsjahre zu spüren bekamen, obwohl sie nichts Illegales getan hatten. Ihre Kinder wurden ihnen weggenommen, sie wurden kahl geschoren und misshandelt, in Internierungslager gesteckt, nach Deutschland ausgewiesen oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen.
Auch Marta, Oskars leibliche Mutter, wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo sie 1951 an den Folgen medizinischer Versuche mit Hirnentnahme (Lobotomie) starb. Oskar hat erst jetzt die Krankengeschichte seiner Mutter einsehen können: „Man machte mit ihr Versuche mit operativen Gehirneingriffen. Dann ließ man sie mehrere Tage lang bewusstlos mit über 39 Grad Fieber liegen und schaute einfach zu, wie sie starb.“
Im Gegensatz zu den Frauen hatten Männer, die mit deutschen Frauen „fraternisiert“ oder homosexuelle Beziehungen zu deutschen Soldaten hatten, nichts zu befürchten. Auch die 250.000 NorwegerInnen, die bei den Deutschen in Lohn und Brot standen, wurden nicht schikaniert. Nichts zu befürchten hatten auch diejenigen, die durch Geschäfte mit der Nazi-Besatzungsarmee gut verdient hatten. „Warum nur die Frauen und die Kinder?“, fragte Rut Bergaust – spätere Ehefrau Willy Brandts – schon 1947.
Erst Ende der Achtzigerjahre tauchten erste Bestandsaufnahmen und Untersuchungen zum Schicksal der „Deutschenluder“ und der „Deutschenkinder“ auf. Zuletzt 1998 lehnte eine Mehrheit des norwegischen Parlaments die Einsetzung einer Untersuchungskommission als „unnötig“ ab. Selbst nachdem man sich 1996 dazu bereit erklärt hatte, Opfer von Lobotomieversuchen zu entschädigen, und 1999 dazu durchgerungen hatte, von NorwegerInnen enteignetes jüdisches Eigentum zu ersetzen – eine Entschädigung der „Deutschenkinder“ wird auch heute noch abgelehnt. Eine offizielle Entschuldigung ebenfalls.
Auch in dem heute beginnenden Prozess weisen die Anwälte der Regierung alle Ansprüche zurück: Nach dem norwegischen Zivilrecht seien etwaige Ansprüche verjährt. Die Europäische Menschenrechtskonvention, auf die die KlägerInnen sich stützen, würde nicht greifen. Denn mit Menschenrechtsverletzungen hätten die behaupteten „Beeinträchtigungen“ nichts zu tun.
REINHARD WOLFF
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