piwik no script img

Open Enthusiasmus

Geschichten vom schmerzvollen Alltag, Formen der Event-Gastronomie und die Niedrigschwelligkeit eines Wohnzimmers: Das Tagebuch einer knappen Woche mit den ausgelassensten, kältesten, spannendsten und unpolitischsten Lesebühnen Berlins

von KIRSTEN KÜPPERS

Dienstag

Ein junger Mann setzt sich auf die Bühne und fängt an Bier zu trinken. Man guckt nach vorne auf den schweigenden Trinker, sieht auf die leere Backsteinwand des Kellers, sieht, wie die Studentinnen sich auf den Holzbänken schubsen. Und denkt an die Zeitungsartikel. Die Lesebühnen sind tot, stand in diversen Kritiken. Was sich an den Dienstagen, Donnerstagen, Samstagen usw. in den Ostberliner Gaststätten mit Vorlese-Angebot abspiele, sei eine müde gewordene Witze-Show, heruntergespult von einer Gruppe trauriger Männer.

Bei ihren Geschichten handele es sich nur bedingt um Literatur, auch wenn einige von den vorher arbeitslosen traurigen Männern inzwischen Berufen wie Schriftsteller und Hörbuchautor nachgehen. Das schreiben die Zeitungen jetzt, wo sie vorher die Lesebühnen erst hochgejubelt haben. Und wegen dieser ungerechten Schizophrenie der Mediengesellschaft ist der Mann an der Kasse des Zosch also so schlecht gelaunt gewesen. Einmal LSD kostet fünf Mark, hat er böse gesagt. Das Lesebühnenprogramm in diesem Keller heißt LSD, weil diese Buchstaben den Titel „Liebe statt Drogen“ abkürzen. Jetzt guckt man also auf die aufgekratzten Medizinstudentinnen im Publikum, richtet den Blick wieder nach vorne. Erst viel später, als man sich von den kalten Kellerwänden längst einen Schnupfen geholt hat, als der Mann mit dem Irokesen-Haarschnitt die Diskokugel an der Decke befestigt hat, als auch der Kassenmensch auf die Bühne gestiegen ist, und als auch alle anderen jungen Männer die Beruhigung eines ersten alkoholischen Getränks in sich aufgenommen haben, erst dann kommen die Geschichten.

Über Frühstück an der Wurstbude, Schnäpse vor der Kaufhalle und den „Sekunden“-Döner am Rosenthaler Platz. Schöne Geschichten vom schmerzvollen Alltag sind das. Manche Stücke sind natürlich auch misslungen. Am Ende singt Volker Strübing dann noch ein frivoles Lied in dem die Worte „Gärbottich“, „meckern“, „Schwanz“, und „kriechen“ vorkommen. Die Begriffe hatte das Publikum ihm zurufen müssen.

Mittwoch

Der amerikanische Country-Sänger Johnny Cash hat Alkoholprobleme. In den 80er-Jahren ist Cash einmal sehr betrunken bei Frank Elsner in der beliebten deutschen Familiensendung „Wetten dass ..?“ aufgetreten. Cash fiel beim Singen auf die Knie und brachte nur noch unartikulierte Sätze hervor. Frank Elsner konnte ihm nicht helfen, der Zwischenfall wurde live gesendet. Das „Reformbühne Heim & Welt“-Mitglied Falko Hennig zeigt diesen Ausschnitt heute in seiner Talkreihe „Radio Hochsee“ im Kaffee Burger. Der Abend soll eine Art Hommage an „the man in black – Johnny Cash“ werden. Stattdessen besucht man jedoch die Konkurrenzveranstaltung der Surfpoeten. Diese Lesegruppe gibt es schon ewig.

Derzeit treten sie im Mudd-Club auf, einem Keller in Mitte, der, möbliert mit schief gesessenen Sofas und rustikalen Stehlampen, die Niedrigschwelligkeit eines warmes Wohnzimmers annehmen soll. Die Vorleser auf der Bühne trinken Bier und essen Gerichte vom Imbiss. Die friedliche Szenerie ist mit Jazz-Rock aus den 70ern unterlegt, auch dies wohl ein bewusst gesetztes Zeichen der Konsumkritik. Das Publikum ist mit Secondhandwaren von Humana bekleidet.

Die prominentesten Vertreter der Surfpoeten sind Stein und Ahne. Stein gilt als radikaler Arbeitsverweigerer. Vor Jahren hat er eine Art Vaterunser gegen die Knechtschaft kapitalistischer Lohnarbeit verfasst, das er regelmäßig im Chor mit dem Publikum rezitiert. Vor kurzem saß Stein im Gefängnis; wegen säumiger Unterhaltskosten, wie es hieß. Ahne ist dagegen für seinen angenehm schleppenden Tonfall beim Vorlesen bekannt. Der Klang seiner Stimme kam eine Zeit lang in Mode, und viele seiner Kollegen haben sich darin versucht, ihn zu imitieren, was freilich keinem von ihnen überzeugend gelang. Heute Abend drehen sich Ahnes Texte um Frauen über 40 und das Leben an Tischtennisplatten im Park. Eine resignative Haltung ist spürbar. Später erklärt Stein, die ganze Vorlesegruppe sei gerade von ihren Freundinnen verlassen worden. Deshalb darf nachher auch der griechische Baguette-Verkäufer etwas über seine konfliktträchtige Liebe zu einer Frau aus Eckernförde erzählen.

Donnerstag

Die Jungs von der „Chaussee der Enthusiasten“ treffen sich in der Ostalgie-Gaststätte Tagung in Friedrichshain. Der Lese-Keller ist heute wegen einer Überschwemmungskatastrophe geschlossen, und die Enthusiasten-Leute müssen oben in der Gaststube auftreten. Mit FDJ-Hemden und DDR-Wimpeln behängt, präsentiert sich dieser Raum als besonders eigenartige Form der Event-Gastronomie. Dieser Eindruck verfestigt sich, als ein junger Gitarrenspieler mit Kinnbart zu singen beginnt. Es handelt sich um ein gefühlvolles Lied über das Achselhaar einer Kugelstoßerin. Man denkt an das Jonathan-Richman-Konzert, das heute auch gewesen wäre.

Dann hört man wieder auf den jungen Gitarrenspieler. Aber dann folgen an diesem Abend doch noch interessante Neuigkeiten. Über den Besuch eines Vorlesers bei seinen Eltern in Lichtenberg zum Beispiel. Auch der Text „Als der Mann mit den vier Beinen wieder einmal aus dem Fenster hing“ vom Schriftsteller Jochen Schmidt ist gelungen. Das Publikum applaudiert mehr als zufrieden. Eine andere Geschichte von Menschen, die einem auf den Teppich kotzen, kannte man allerdings schon. Sie wurde bereits am Dienstag vorgelesen.

Freitag

Der Besuch der Lesebühne „Lokalrunde“ im Kurvenstar entfällt wegen Schnupfens.

Samstag

Das Prinzip erinnert an die Konferenzschaltung der Fußballbundesliga. Samstags entsenden die verschiedenen Lesebühnen jeweils einen Vertreter in die „Alte Kantine“ der Kulturbrauerei. Falko Henning (Reformbühne Heim & Welt) liest einen wunderbaren Brief vor, den er auf der Straße gefunden hat.

Ein Mann im roten Hemd (Lokalrunde) singt ein Liebeslied. Der Vertreter der „Chaussee der Enthusiasten“ zitiert einen lustigen Artikel aus einer Gartenzeitschrift. Und bei Volker Strübing (LSD) wird man sich vor allem an das merkwürdige Pflaster erinnern, das ihm an der Unterlippe hängt und von dem er sagt, es habe irgendetwas mit einer Fastfoodkette zu tun. Nach getaner Arbeit gehen die Vorleser samstags meist noch in die nahe gelegene Gaststätte Zur Schildkröte und bestellen dort Bratkartoffeln.

Sonntag

Wladimir Kaminer, der berühmteste Vertreter der „Reformbühne Heim & Welt“, befindet sich derzeit in Rom. Dafür ersetzt ihn heute im Kaffee Burger der ebenfalls berühmte Comiczeichner Fil. Es wird ein besonders ausgelassener Abend. Fil spielt AC/DC-Lieder auf der Gitarre nach, Ahne wirbt für die neue „Slayer“-Platte, der Vorleser Jakob Hein trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „My President is Charlton Heston“. Trotzdem meint ein Gast in der Pause: „Mir ist das alles zu unpolitisch.“ Und tatsächlich denkt man bei der lispelnden Stimme eines jungen Mannes vorne auf der Bühne eher an eine Kindersendung mit liebenswerten Nagetieren als an nachdenkliche Unterhaltung mit gesellschaftlicher Relevanz. Am Ende singt indes die ganze Reformbühnengruppe das Lied „Über den Wolken“. Und auch der kritische Besucher singt schüchtern mit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen