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Pasaklilarla oynama

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Eine türkische Jugend mit blonden Flüchtlingen

Heimat? Kann ich nichts mit anfangen, dachte ich zuerst. Dann: Bremen! Warum fällt mir das jetzt ein, wo ich doch in Ankara geboren wurde und meine ersten Lebensjahre bereits in fünf verschiedenen Orten der Türkei verbracht hatte, bevor ich nach Bremen kam?

Es gibt keine Begründung, außer der, dass ich mich dort wohl fühlte. Alles war neu und aufregend. Die neue Stadt, die neue Wohnung, der Kindergarten, die ersten Schuljahre. Und: Das Thema Heimat war dort Teil meines Alltages, tauchte immer wieder auf und beschäftigte mich.

Noch gab es keinen Friedrich Merz und keine Leitkulturdebatte. Deshalb bezog sich die Bremer Heimatdebatte nicht auf die Menschen aus Italien, Griechenland oder der Türkei, sondern auf die damals größte Gruppe von Zugewanderten: die Flüchtlinge.

Flüchtlinge im Jahre 1960 waren blond, blauäugig und benötigten keine teuren Sprachkurse, da sie deutschsprachig waren. Sie kämen aus den „Ostgebieten“, hörte ich ständig. Ich wusste zwar nicht, was ich mir darunter vorzustellen hatte, verstand aber, dass sie unter dramatischen Umständen aus dieser offensichtlich unwirtlichen Gegend der Welt in das rettende Bremen gelangt waren.

Recht dramatisch war allerdings auch ihr Alltag hier. Sie wohnten in Wellblechcontainern, die wie riesige halbierte Wasserrohre aussahen und auf einem Gelände hinter dem Park standen, in dem wir Kinder nicht spielen durften. Direkt hinter dem großen, leer stehenden Bunker.

Einer von ihnen, Harald, ging in meine Klasse. Er fiel auf den ersten Blick auf. Harald war sehr ruhig, seine Hose geflickt, seine Schuhe zu klein und er trug immer denselben dreckigen Pullover. Außerdem stank Harald unüberriechbar. Möglicherweise gab es in den Wellblechhäusern große Waschküchen, da ständig die meterlangen Wäscheleinen voller Wäsche hingen, aber keine Duschen und Badewannen.

Das käme daher, dass seine Eltern arbeitslos seien, sagten meine Eltern. Sie waren also arm. Das verstand ich. Warum unsere Nachbarin Frau Schlede aber meine Mutter nachdrücklich den guten Rat gab, wir Kinder sollten besser nicht mit Harald und den anderen aus den Wellblechhäusern spielen, blieb unklar. Mit Flüchtlingen spielten brave Kinder also nicht.

An anderen Tagen allerdings sprach Frau Schlede erregt über das große Glück der Flüchtlinge. Sie könnten sich endlich wohl aufgehoben fühlen und glücklich, ja auch ein wenig dankbar sein, da sie in Bremen ihre Heimat gefunden hätten.

Harald aber, der auch am Ende der ersten Klasse noch kein Wort aus der Fibel vorlesen konnte, wurde immer stummer. Ich konnte auch bei genauestem Hinsehen nicht feststellen, dass er besonders glücklich sei, obwohl er angeblich endlich in seiner Heimat war.

Über mich sprach Frau Schlede in diesem Zusammenhang eigenartigerweise nie. Dabei war ich aber diejenige, die sich wohl fühlte beim Spiel auf der Straße, dem Unterricht in der Klasse und bei meinen Freunden. Mit mir wollten alle spielen.

Ich wurde in den Pausen im Lehrerzimmer herumgereicht und immer wieder gefragt, woher ich kam, wie es dort aussah und was mir in Bremen gefiel. Ich wurde dafür gelobt, dass ich schon so gut Deutsch gelernt hätte, obwohl Harald eindeutig besser Deutsch sprach. Ich machte mir deshalb immer wieder Gedanken darüber, ob ich denn überhaupt eine Heimat hätte, und wenn ja, wo diese nun sei.

Schließlich habe ich entschieden, dass Bremen meine Heimat sein solle, denn mir ging es ja hier ganz genau so, wie es von Harald fälschlicherweise angenommen wurde. Das Gefühl für Heimat entwickelt sich nur individuell in Bezug auf einen bestimmten Ort auf dieser Welt – oder auch nicht.

Viele Jahre später bemerkte ich, dass Bremen zwar immer noch sehr positive Gefühle in mir auslöste, aber andere Orte mir auch ganz gut gefielen. Heute habe ich eine transportable Heimat, die ich immer dort aufschlagen kann, wo ich auf Menschen treffe, die mir nahe sind.

SANEM KLEFF

Sanem Kleff ist stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

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