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Trauma des Katholizismus, Sieg des Nationalstaats

Was war schon die deutsche Hauptstadtfrage 1990 verglichen mit dem Kampf um Rom im 19. Jahrhundert? Nichts, meint Gustav Seibt zu Recht

Es ist schön, wenn sich eine These durch Recherche noch ändern kann. „Die einzige echte historische Parallele zur deutschen Hauptstadtfrage von 1990 - 99“, schreibt der Historiker und Publizist Gustav Seibt, habe er „ins Bewusstsein des Publikums“ rücken wollen – auch in Rom musste 1870 erst eine Mauer fallen, bevor die Regierung des frisch vereinten Italien in die Stadt umziehen konnte.

Doch je weiter sich Seibt in den welthistorischen Konflikt zwischen liberalem Nationalstaat und päpstlichem Universalismus vertiefte, desto mehr sah er sich „in eine Geschichte versetzt, die unser Knirpstum auffällig überragt“. Was ist schon der Umzug in die Kapitale des mediokren Satellitenstaats DDR gegen den Einmarsch ins Zentrum einer Weltreligion? Welchen symbolischen Wert hat die Hauptstadt des nur 74 Jahre währenden Bismarck-Reichs gegen die geschichtsbeladene Metropole eines antiken Weltreichs?

Die Vordenker des Risorgimento, der nationalen „Wiedergeburt“ Italiens im 19. Jahrhundert, hatten die „Römische Frage“ auf die Tagesordnung gesetzt. Als Hauptstadt des angestrebten Einheitsstaates konnten sie sich nur Rom vorstellen – die geschichtsträchtigste Stadt des Landes, in der Mitte der Halbinsel gelegen und über die Rivalitäten der übrigen Städte erhaben.

Akut wurde die Frage mit der Gründung des italienischen Nationalstaates 1859/60, der sich den größten Teil des Kirchenstaats einverleibte und die weltliche Herrschaft des Papstes auf die Region um Rom beschränkte. Das Turiner Parlament erklärte Rom zur künftigen Hauptstadt Italiens – doch vorerst war der Pontifex durch die Protektion des französischen Kaisers Napoleon III. geschützt.

Das änderte sich zehn Jahre später, als die Franzosen mit ihrem Krieg gegen Deutschland beschäftigt waren und Napoleon gestürzt hatten. Mit allen europäischen Mächten verständigte sich Italiens Außenminister Visconti Venosta auf den Anschluss Roms. Nur der Papst war zu Verhandlungen nicht bereit. So führte die italienische Regierung einen Krieg, der militärisch eine Petitesse war – und eroberte den Kirchenstaat. Am 20. September 1870 schlugen italienische Truppen bei der Porta Pia eine Bresche in die antike Stadtmauer.

Rund 70 Menschen mussten sterben, weil der Papst nur der Gewalt weichen wollte. Bis heute steht der 20. September in Italien für das Trauma des Katholizismus und den Sieg des laizistischen Nationalstaats. Unversöhnlich prallten die Prinzipien aufeinander. Die radikalen Liberalen hielten den Katholizismus für eine finstere Macht und billigten dem Papst keinen Fußbreit italienischen Bodens zu. Die Kurie war nicht bereit, ihre jahrhundertealten Rechtspositionen zu räumen.

Beide Seiten handelten schließlich auf ihre Weise. Das italienische Parlament verabschiedete einseitig ein Garantiegesetz für den Papst, und der Pontifex verbot den italienischen Gläubigen, sich an den Wahlen im neuen Einheitsstaat zu beteiligen. Dieses päpstliche „Non expedit“ verhinderte, verbunden mit einem stark beschränkten Wahlrecht, die Integration der katholischen Massen ins parlamentarische System.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg drängten Landbevölkerung und städtisches Proletariat auf die politische Bühne – unter den Fahnen von politischem Katholizismus, Sozialismus und Faschismus. Diesem Ansturm war die kleine liberale Elite nicht gewachsen: Sie musste vor Mussolini kapitulieren. Der Konflikt mit der Kirche war für Italien so fatal wie die Vorherrschaft des ostelbischen Großgrundbesitzes für Deutschland: Beides ebnete den Weg in die Diktatur. Die Aussöhnung mit dem Vatikan konnte Mussolini 1929 als persönlichen Erfolg darstellen, obwohl sie sich vor seiner Machtübernahme längst abgezeichnet hatte.

Damit ging jene Geschichte zu Ende, die Seibt in drei großen Kapiteln beschreibt, die sich ganz auf Augenzeugenberichte und die zeitgenössischen Debatten stützen. Er beginnt mit einer überaus plastischen Schilderung des römischen Feldzugs von 1870 und breitet dann die Rom-Debatten der vorausgegangenen Zeit aus. Schließlich zeichnet er nach, wie aus dem beinahe zeitlosen Rom der Päpste in kurzer Zeit die Hauptstadt eines ganz normalen Staates wurde. Seibt, der über das Rom der Renaissance promoviert hat, bedauert den Verlust der verwunschenen Oase aus Kirchen und Ruinen, engen Gassen und weitläufigen Parks – und ist doch nicht blind für die Erfordernisse des modernen Italien, das seine Mietskasernen und Geschäftshäuser in den geschichtsträchtigen Boden rammte.

Als die Gründergeneration des Einheitsstaats abtrat, verschoben sich in der römischen Politik allmählich die Gewichte. Spätestens in den 1890er Jahren war unter der Ägide des Ministerpräsidenten Francesco Crispi nicht mehr leise Diplomatie, sondern lautes Säbelrasseln angesagt. Ob solche imperialen Träume, wie Seibt behauptet, in einer anderen Stadt als Rom nicht aufgekommen wären? Zweifel sind angebracht, vollzog sich doch im geschichtslosen Berlin ein ähnlicher Politikwechsel von Bismarck zu Wilhelm II.

Jenseits oberflächlicher Parallelen in der Hauptstadtfrage können historische Vergleiche zwischen Italien und Deutschland sehr sinnvoll sein – gibt es doch keine anderen Länder in Europa, deren Entwicklung in den jüngsten zwei Jahrhunderten so viele Ähnlichkeiten aufweist. Doch selbst gebildete Deutsche, die auf den Spuren von Antike und Mittelalter nach Rom reisen, wissen über den Konflikt zwischen Papsttum und italienischem Nationalstaat oft nicht einmal, dass es ihn gab. Jetzt können sie nachlesen, was ihnen dabei entgangen ist. RALPH BOLLMANN

Gustav Seibt: „Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt“. 352 Seiten, Siedler Verlag, Berlin 2001, 48 DM (24,95 €)

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