: Säulen zur Geisterbeschwörung
Die Bedeutung des Wiederaufbaus liegt für viele New Yorker darin begründet, dass die zwei Türme baulich-symbolisches Identifikationsmerkmal waren
von ROLF LAUTENSCHLÄGER
Dass ihr Artikel wie eine Bombe einschlagen würde, hatte Ada Louise Huxtable nicht gedacht. Da hatte sich die Architekturkritikerin des Wall Street Journal in einem recht emotionslosen Plädoyer über den Sinn und Unsinn einer Rekonstruktion des World Trade Centers (WTC) ausgelassen und gegen den Wiederaufbau der beiden nach den Terrorangriffen vom 11. September kollabierten Twin Towers argumentiert. Das riesige Loch, das der Einsturz des World Trade Centers hinterlassen habe, schrieb sie wenige Tage nach der Katastrophe, „wird die Stadt und die Skyline zwar für immer verändern“. Die City aber werde zur „Normalität“ zurückfinden – auch ohne die Türme.
Ein Verzicht? Niemals!
Seither hagelt es massiven Widerspruch, hatte sich doch Huxtable am Willen der New Yorker, ihre Skyline „in Gänze“ wiederhaben zu wollen, so die New York Times, versündigt. Bürgermeister Rudolph Giulianis patriotische Maßgabe „We will rebuild“, hatte die Times ein paar Tage nach dem Wall Street Journal-Text zu der Feststellung verlängert, „die Wichtigkeit des Wiederaufbaus“ liege schon darin begründet, dass die beiden Türme des WTC ein baulich-symbolisches Identifikationsmerkmal sowohl Manhattans als auch des US-amerikanischen sowie globalen Kapitalismus darstellten. Ein Verzicht? Niemals!
In die Debatte über den Umgang mit dem Loch in der Erde und dem am Himmel über New York versuchen jetzt Architekten und Architekturkritiker den Riss, der die Ostküstenmetropole in Pro und Contra spaltet, in kreativere und zugleich praktikable Überlegungen umzuleiten.
Die ersten Szenarien für riesige Gedenkstätten aus zerschmolzenen Ruinenteilen, die Bart Voorsaager anregte, oder Erinnerungsparks wie die der Bildhauerin Louise Bougeoise, die in der Times eine sternförmig gezackte Stele mit den Gravuren der Opfernamen veröffentlichte, haben zwar kaum Chancen auf Realisierung angesichts des öffentlichen und ökonomischen Drucks nach einer Bebauung. Doch für Ground Zero, wie die Bürger New Yorks das gewaltige Gräberfeld aus Trümmern, Asche und Ruß nennen, liegen auch konkrete Modelle auf dem Tisch. So zielt die Idee des New Yorker Planers David Childs, der für den WTC-Pächter Larry Silverstein einen Ring aus vier 200 Meter hohen Gebäuden entwarf, in deren Mitte sich ein Mahnmal befinden soll, auf eine Rückgewinnung des Ortes als Büroquartier. Childs und die Architekturfabriken SOM sowie Cooper Robertson & Partners wollen Anfang 2002 Skizzen für den Wiederaufbau in einer Ausstellung präsentieren, die von extremen Reaktionen – etwa jener von Donald Trump, dem Immobilientycoon, der sich „für noch höhere Türme als die des 400 Meter hohen WTC“ aussprach – zwar abweichen, aber die Bebauung des Hochhausstandorts fortschreiben.
Auf der anderen Seite mehren sich die Stimmen, die zu einem reflektierten Umgang mit dem Thema aufrufen. Statt zu planen sei ein Akt des „Nachdenkens“ über die Dimension der Tat und die Ausdrucksmöglichkeiten des Gedenkens nötig, fordern etwa der Designer Daniel Rozin und der Architekt des Holocaust-Mahnmals in Berlin, Peter Eisenman. Der hatte die Katastrophe von seinem Balkon aus verfolgt und gleich nach den ersten „Rebuild“-Vorschlägen vor Kurzschlusshandlungen im Sinne eines Wiederaufbaus der Twin Towers gewarnt. Gleich welche Architektur dort wieder entstehen soll, müsse diese durch ihre Form, Haltung und Nutzung zuerst den Opfern Rechnung tragen und deren Würde in den Mittelpunkt stellen, sagt Eisenman.
Eisenmans Appell an die eigene Bewusstwerdung des mörderischen Anschlags drückt auch sieben Wochen nach der Katastrophe eine doppelte Unsicherheit bei großen Teilen der Architektenschaft aus: Es gibt keine adäquaten geistigen und baulichen Antworten für das, was geschehen ist. Vergleiche, wie sie etwa der Architekturkritiker Brandon Mitchener mit seinem Verweis auf die Dresdner Frauenkirche anstellte und den Memorialcharakter in der Rekonstruktion aufgehoben fand, verbieten sich angesichts der historischen Einmaligkeit in New York. Klar ist nur: Ein „Weiter wie bisher“ am Standort des WTC kann es nicht geben.
Neben der Suche nach der baulichen Form und dem Gedenkcharakter haben in der Architecture Week die Redakteurin Tess Taylor und der Hochschullehrer Michael Sorkin den fast pragmatischen Gedanken eingebracht, die Fläche um die Twin Towers nicht isoliert, sondern den Standort insgesamt neu zu betrachten. Vor dem Hintergrund, dass der Wiederaufbau der Türme und eines Teils des Financial District nach Schätzungen des Stadtkämmereres Alan Hevesi rund 100 Milliarden US-Dollar kosten und mehr als ein Jahrzehnt dauern würde, so Taylor, lohne es sich, über andere städtebauliche und soziale Strukturen nachzudenken. Zu Recht. Das Viertel um das WTC verzeichnet schon seit Jahren eine „Metamorphose“, galt doch das ungeliebte Welthandelszentrum mit seinen 50.000 Arbeitsplätzen längst nicht mehr als Topadresse in New York. Dienstleistungs- und Finanzfirmen sind schon vor Jahren nach Midtown gezogen.
Experimentierfeld
Die „Dezentralisierung“ in Richtung New Jersey oder Long Island, die der Soziologe Richard Sennet schon vor Jahren ausmachte, verstärkt sich jetzt nur, fehlen doch seit dem 11. September über 1 Million Qaudratmeter Nutzfläche, wie die Times ausrechnete. So hat etwa der Unternehmensberater Merill Lynch entschieden, seine 400.000 Quadratmeter Büroflächen dort aufzugeben, ebenso die Lehman Broth. Holdung Inc. Der Börsenmakler Grundtal zieht mit 180.000 Quadratmeter Nutzfläche an die Liberty Plaza. Es gebe einen wirtschaftlichen „Exodus aus dem Finanzdistrikt“, der dessen Neustrukturierung nötig machen könnte, so Tess Taylor.
Die Journalistin ist nicht die einzige Ideengeberin für neue urbane Nutzungen. Auch der Demokrat Fernando Ferrer, der sich als Nachfolger um Giulianis Bürgermeisteramt bewarb, hat den singulären Aufbau des WTC in Frage gestellt und für eine neue Gesamtplanung und Mischnutzung plädiert: für mehr Wohngebäude, Geschäfte, Hotels und Gastronomien sowie eine Verringerung der Büroflächen. Dies hätte den Vorteil, sich nicht nur von der monofunktionalen Nutzung, sondern auch von deren Unbezahlbarkeit verabschieden zu können, da die Bebauung kleinteiliger wäre und viele Investoren daran beteiligt würden.
Die Stadt, meint Taylor, müsse zum Experimentierfeld von Planern, Architekturbüros und Gedenkexperten werden. Um nicht in die New-York-typischen Argumentationsfallen vom Ende der „vertikalen Stadt“ und dem Skyscraper als Auslaufmodell des letzten Jahrhunderts bis zur fragwürdigen Rekonstruktion des WTC zu tappen, benötige die Stadt eine neue Planungskultur, eine „neue Imaginationskraft aller am Bauprozess Beteiligten“, wie Herbert Muschkamp diese Woche in der Times forderte.
Denn wie widerständig gerade der Rekonstruktionswille ist, beweisen nicht nur die „Rebuild“-Kampagnen von Giuliani über Silverstein bis hin zu Präsident Bush, sondern auch eine geplante Lichtinstallation, mit der nach den Räumarbeiten am nächtlichen Himmel zwei Hochhaussäulen erscheinen sollen: das New Yorker Statussymbol als Geisterbeschwörung.
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