: Redliche Spione
Klingender Kitchen-Sink-Realismus: Elbow geben heute im ColumbiaFritz der Trauer der Welt, der sozialen Ungerechtigkeit, dem Elend vor den Toren Manchesters eine Stimme
Die schönste peinliche Geschichte über Elbow erzählt Sänger Guy Garvey gleich selbst: Er hatte einen Song geschrieben, die Band bereits wochenlang am Arrangement getüftelt, bis er ziemlich genau dasselbe Lied plötzlich im Radio hörte. Es stellte sich heraus: Garvey hatte unbewusst einen relativ unbekanntes Werk von Talk Talk geklaut.
Garvey ist ein bescheidener Mensch, das merkt man, wenn man ihn interviewt. Und Elbow klingen eben wie Talk Talk. Das merkt man, wenn man sie hört. Oder auch wie King Crimson, wie Nick Drake, oder, um ein wenig zeitgemäßer zu werden, wie Coldplay. „Prog-Rock ohne die Soli“ hat das Quintett seine Musik einmal selbst genannt. Nun türmen sich die Geigen und Bläser über einer elegischen Grundstimmung, zieht die Orgel immer wieder Schlieren, nimmt der Song sich Zeit. Währenddessen blickt Garvey auf die Trauer der Welt, gibt ihr eine Stimme.
„Damit, eine Stimme zu haben, die gehört wird“, sagt Garvey, „geht eine gewisse Verantwortung einher.“ Garvey sieht sich als Chronist seiner Umgebung. Die heißt Bury und ist eine Kleinstadt vor den Toren Manchesters und leidet wie dieses noch heute unter dem Umbau Großbritanniens durch den Thatcherismus. Wie als Kontrast zur gnadenlosen Lieblichkeit der Musik schreibt Garvey über die Trennung seiner Eltern, den Tod eines Freunds, das Fixerpärchen an der Bar und einen schimpfenden Sozialisten im Bus. „Redliche Absichten“ solle Musik haben, und Garvey hat sie. Ein Blick in seine blauen Augen genügt als Beweis: „Ich könnte keine Songs singen, die mir nichts bedeuten. Sonst könnte ich auch in einer Bank oder Fabrik arbeiten.“
Niemals aber würde Garvey politische Handlungsanweisungen formulieren. „Ich biete keine Antworten an und ich bin auf keinem Kreuzzug.“ Es ist viel einfacher: „Ich versuche zu formulieren, was abläuft, mehr nicht“, und ansonsten seien „die Leute dazu angehalten, selbst nachzudenken“. Das reichte der britischen Musikpresse, Elbow aufzubauen als Gegenpol zu den aktuell erfolgreichen, allein über den eigenen Bauchnabel reflektierenden Bands wie Radiohead, von denen Elbow musikalisch gar nicht mal so viel trennt.
Das soziale Gewissen mag seit The Smiths und The Jam im englischen Pop nahezu ausgestorben sein, Elbow bringen den Kitchen-Sink-Realismus, der in den letzten Jahren erfolgreich im britischen Kino überlebt hat, neu zum Klingen. Nicht, dass sie sich ihren Vorgängern ausdrücklich verpflichtet fühlen, aber „das kommt wohl einfach so durch“. Und im Gespräch wird Garvey dann doch recht eindeutig: „Jeder in England weiß, dass die Regierung vollkommen nutzlos ist. Ich hasse es, Statistiken anzuführen: Aber England ist sechsmal so reich, wie es Ende der 60er-Jahre war. Der Reichtum ist aber ungleichmäßig verteilt. Öffentliche Einrichtungen funktionieren nicht, das Gesundheitssystem ist ein Torso, Menschen sterben. Es gibt keinerlei soziale Verantwortung.“ Dabei hebt sich seine leise Stimme kaum, bleibt Garvey ganz der höfliche Brite und fragt sofort einschränkend selbst: „Sind wir politisch verantwortungsbewusste Spione im korrupten Haus des Kapitalismus? Nein, das funktioniert nicht.“ THOMAS WINKLER
2. 11., 20.30 Uhr im ColumbiaFritz
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